Michael Landy
Out of Order
08.06.2016 – 25.09.2016
Museum Tinguely

 

«Ich wünsche mir die Ausstellung wie einen Spaziergang durch die englische Provinz. Wenn man durch die Installation Market (1990) schlendert, wird das grüne Kunstgras auf den gestuften Marktständen zur Hügellandschaft und ein Einkaufswagen aus Closing Down Sale (1992) erscheint verlassen wie ein Fleck in der Landschaft.
Danach werden Sie ein Foto von meinen Eltern sehen, wie sie vor einem Nachbau ihres Hauses stehen, den ich unter dem Titel Semi-detached (2004) für die Tate geschaffen habe. Gleich daneben folgt eine Mülltonne, die zu Scrapheap Services (1995) gehört.
Market verbindet also gewissermassen die verschiedenen Bausteine meiner Projekte. Darum heisst die Ausstellung Out of Order, es gibt keine chronologische Reihenfolge, alles ist durcheinander – der Ausdruck kann auch ‹ausser Kontrolle›, ‹falsch› oder ‹unhöflich› bedeuten.»1   Michael Landy

Andres Pardey, Vizedirektor Museum Tinguely
Andres Pardey, Vizedirektor Museum Tinguely

Von Andres Pardey*
Das Museum Tinguely zeigt in Michael Landys erster Retrospektive eine Übersicht über die Werke des britischen Künstlers, die seit 1990 entstanden sind. Landy schloss Ende der 1980er-Jahre das Goldsmith College ab und war 1988 bei der Ausstellung Freeze
dabei, deren Hauptorganisator sein Kommilitone Damien Hirst war und in der unter anderen auch Künstlerinnen und Künstler wie Angela Bulloch, Mat Collishaw, Angus Fairhurst, Gary Hume, Sarah Lucas oder
Fiona Rae ihre Werke zeigten. Diese Generation, die später als «Young British Artists» bezeichnet wurde, eroberte von hier aus die Kunstwelt mit höchst individuellen Werken, jeder und jede auf grosse Eigenständigkeit bedacht, und doch von einem gemeinsamen Esprit der «Sensation»2 beflügelt.

Michael Landy, Multi-Saint, 2013
Michael Landy, Multi-Saint, 2013

Während seine Künstlerfreunde teilweise den Weg der uneingeschränkten Merkantilisierung oder des andauernden Skandals wählten, setzte Michael Landys kritische Auseinandersetzung
beinah britisch distanziert bei der Gesellschaft, dem Markt und deren Verwerfungen an. Landy war im Grossbritannien von Margaret
Thatcher aufgewachsen. Die «Eiserne Lady», Premierministerin von 1979 bis 1990, steht für den Umbau des Vereinigten Königreichs von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Ganze Landstriche wurden deindustrialisiert, die Arbeitslosenquoten unter Arbeitern erreichten zeitweise Höchststände. Landys Vater war ein einfacher Tunnelarbeiter gewesen, bis er bei einem schweren Arbeitsunfall als «total wreck case» dauerhaft arbeitsunfähig wurde. Er kam aus einem Milieu, in dem man der Politik Thatchers sehr kritisch gegenüber stand.

Bereits ganz am Anfang seiner Karriere schafft es Michael
Landy, mit Market eine Gestalt für ein Abstraktum wie die Konsumwelt zufinden. Indem er eine grosse Halle mit den nur mit Kunstrasen belegten stufenförmigen Ständen möblierte, auf denen das Eigentliche – die Ware – fehlte, rückte er eben gerade diese ins Zentrum des Interesses. Dabei legte er grossen Wert auf die realistische Konstruktion dieser Stände, sie sollten sich in jeder Beziehung so anfühlen, als ob sie geradewegs aus einer wirklichen Markthalle kämen. Dimension, Oberflächen, Materialien und vor allem der Kunstrasen waren «echt» und jedem Briten auch aus dem Alltag vertraut. So wurde das Fehlen der Ware noch viel dramatischer, es war die Demonstration einer wirklichen Leerstelle.

«Mich interessierten die vorübergehenden, aber doch dauerhaften Strukturen, diese Art von Materialfluss, wenn Dinge in einem Moment noch da sind und im nächsten zusammengepackt und verschwunden. Die Installation (…) bestand aus 100 Einzelteilen. Es gab oxidrote Metallstände mit Kunstrasen und Kisten dazu, so wie die Brotkisten, die überall in London herumliegen. Mir gefiel die Idee, dass man über diesen Markt bummelt und es weder Anfang, Mitte noch Ende gibt, alle Objekte werden gleich behandelt, sie alle bilden ein Ganzes. Das Werk entfaltet seine volle Bedeutung mit den drei Appro-
priations
-Videos von Gemüsehändlern, die morgens ihre Stände aufbauen; sie unterstreichen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kunstproduktion und gesellschaftlicher Aktivität. Bei Market ging es um den Austausch zwischen realen Menschen, im Gegensatz zum unsichtbaren globalen Markt.»3

Michael Landy, If Cleanliness is next to Godliness, then welcome to heaven (Scrapheap Services) 1993
Michael Landy, If Cleanliness is next to Godliness,
then welcome to heaven (Scrapheap Services) 1993

In die Struktur von Market sind die weiteren Werke und Werkgruppen der Ausstellung eingebettet, zum Beispiel die Reklametafeln von Scrapheap Services (1996), der Firma, die Landy unter dem Eindruck der schweren Wirtschaftskrisen der frühen 1990er-Jahre geschaffen hat. Sie kümmert sich um die Entsorgung überzähliger, nutzlos gewordener Menschen. Michael Landy gab damit eine künstlerische Antwort auf den zunehmenden Zynismus der Politik. Oder die Video-Dokumentation zu Break Down (2001). In einer Gesellschaft, in der der Kontrast zwischen Arm und Reich immer grösser wird, in der die Luxusindustrie und der Kunstmarkt zu boomen beginnen (und gleichzeitig am anderen Ende der Gesellschaft die Sozialprogramme überlaufen), macht sich Michael Landy daran, sein gesamtes Hab und Gut zu zerstören. Alles, was ihm gehört, sein Saab 900, seine Kleider, sein Pass, Kunstwerke, Bücher, sein Radiowecker, seine Geburtsurkunde, sein ganzer Besitz werden in einem ehemaligen C&A-Geschäft in der Londoner Oxford-Street von einem 12-köpfigen Team fein säuberlich inventarisiert, vermessen, beschrieben, aufgelistet – und anschliessend zerstört und entsorgt. Am Schluss besitzt er nichts mehr – und startet bei null. Im Museum Tinguely ist die vollständige Inventarliste der 7227 Gegenstände, die bei Break Down zerstört wurden, zu sehen. Sowie Radierungen von Nourishment (2002), in denen genügsame, im Stadtraum wachsende Pflänzchen dargestellt sind. Die Porträts seiner Familie, die Landy 2007 gezeichnet hat. Videos und Zeichnungen, die Landy 2004 vom Haus seiner Eltern und von seinem Vater gemacht hat: eine höchst intime Auseinandersetzung mit dem Nächsten.

Michael Landy, Appropriation 1, 1990, Videostill
Michael Landy, Appropriation 1, 1990, Videostill
Michael Landy, Appropriation 2, 1990, Videostill
Michael Landy, Appropriation 2, 1990, Videostill
Michael Landy, Appropriation 3, 1990, Videostill
Michael Landy, Appropriation 3, 1990, Videostill

Und dann ist Michael Landys Beschäftigung mit Homage to New York von Jean Tinguely zu sehen.

«Mein Interesse an Tinguelys Homage to New York wurde geweckt, als ich ein Bild davon in dem Band Passages in Modern
Sculpture
von Rosalind Krauss sah. Ich mochte die Parallelen zwischen Break Down, das auf einer Müllhalde in Essex landete, und Homage to New York, das auf einer Halde in New Jersey endete. 1960 besuchte Tinguely zum ersten Mal New York. Als er die Wolkenkratzer sah, wollte er ein Werk schaffen, das sich der Dauerhaftigkeit dieser Bauwerke widersetzte und eher wie das Leben selbst war, vergänglich und fliessend. (…) Wie bei Break Down interessierte mich auch die Idee der Mythologie von Kunstwerken, die nur für kurze Zeit existieren.»4

Unter der Bezeichnung H.2.N.Y. entstanden ab 2006 Zeichnungen, teils monumentalen Ausmasses, nach den Fotografien der Aktion Tinguelys. Mit Korrekturflüssigkeit, Leim, Bleiche und auch mit Tusche setzt Landy die Fotos in vollkommen schwarz-weisse, fast stilisierte Bilder um.

Seine jüngsten Werkgruppen Saints Alive (2010–2013), eine Auseinandersetzung mit Gemälden von Märtyrern aus der Londoner
National Gallery, und Breaking News (2015–2016), eine Sammlung tiefgründiger und banaler Zeichnungen aus dem Alltag, bilden den Schlusspunkt in dieser Retrospektive, die einen Künstler präsentiert, der wie nur wenige Künstler seiner Zeit am Puls der Gesellschaft arbeitet und – wie ein Kunst-Seismograph – auf die grossen und kleinen Erschütterungen unserer Welt
reagiert.

* Andres Pardey ist Vizedirektor
des Museum Tinguely

1 Michael Landy im Gespräch mit Catherine Lampert, aus dem Katalog «Michael Landy. Out of Order», Museum Tinguely, Basel, 2016, S. 14.

2 «Sensation» hiess die Ausstellung in der Londoner Royal Academy, die 1997 das Phänomen der «Young British Artists» endgültig popularisierte und mit Stationen in Berlin und New York in die Welt hinaustrug.

3 Michael Landy, ebenda, S. 14

4 Michael Landy, ebenda, S. 17

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