Arte Povera. Der grosse Aufbruch

Anselmo, Boetti, Calzolari, Fabro, Kounellis, Merz, Paolini, Pascali, Penone, Pistoletto, Prini, Zorio, aus der Sammlung Goetz 

Arte Povera
Der grosse Aufbruch
09.09.2012 – 03.02.2013
Kunstmuseum Basel

In den 60er-Jahren formiert sich in Italien mit heute so berühmten Künstlern wie Alighiero Boetti, Jannis Kounellis, Mario Merz oder Michelangelo Pistoletto eine neue künstlerische Bewegung. Charakteristisch ist der Einsatz einfacher Mittel und ärmlicher Materialien wie Erde, Glas, Äste, Neonlicht oder Wachs. Er steht im durchaus kritischen Gegensatz  zur immer technologischer werdenden Umwelt und zu den Produktionsmechanismen der Massenkultur. In stilistischer Anarchie streben Bilder, Objekte, Rauminstallationen und Performances danach, zu natürlichen Prozessen und Gesetzmässigkeiten zurückzufinden. Das Povere, Poröse bis Fliessende der Gestaltungsmittel soll die Wahrnehmung öffnen für «das allen Dingen zugrundeliegende Strömen von Energien» (Carolyn Christov-Bakargiev). So entstehen prozessorientierte Arbeiten im Spannungsfeld von Natur und Kultur, Anarchie und Ordnung. In diesen «visualisierten Wahrnehmungsprozessen» wird gleichzeitig das grosse kulturelle Erbe – von Antike und Renaissance –  auf sinnliche und poetische Weise befragt.

Der Begriff Arte Povera taucht im September 1967 erstmals auf als Titel einer in Genua stattfindenden Ausstellung mit Künstlern aus Rom, Turin und Mailand, so Boetti, Fabro, Kounellis, Pascali, Paolini und Prini, nicht aber Pistoletto und Merz. Wortschöpfer ist  der Kunstkritiker und Kurator der Genueser Ausstellung, Germano Celant. Diese künstlerische Bewegung jedoch als Künstlergruppe im engeren Sinne zu bezeichnen, kann aber schnell irreführend sein. Bei aller Vergleichbarkeit der künstlerischen Strategien und des gesellschaftspolitischen Engagements herrschte bei den einzelnen Künstlern eine Vielgestaltigkeit der formalen Mittel und eine ausgeprägte Individualität vor, die sich im Verlauf der 70er-Jahre noch zuspitzte.

Die Sammlung Goetz ist eine der umfassendsten Sammlungen dieser überaus innovativen und wirksamen Kunstbewegung. Die grosse Sonderausstellung im Kunstmuseum Basel ermöglicht es mit rund 100 Werken, die Aktualität der Arte Povera auch für die jüngste Künstlergeneration zu veranschaulichen. Zahlreiche Schlüsselwerke sind versammelt, die Ingvild Goetz über viele Jahre gesammelt hat und die seit Langem nicht mehr öffentlich zu sehen waren. Ausserdem hat die Sammlung Goetz ein wichtiges Archiv mit Fotografien und Dokumenten angelegt. Sie werden in der Basler Ausstellung als Auftakt gezeigt, um die weitverzweigte Dimension dieses grossen künstlerischen Aufbruchs erfahrbar zu machen. So wird eine Übersichtsschau möglich, die in den späten 50er-Jahren einsetzt und zu Beginn der frühen 90er-Jahre endet, wobei das Schwergewicht auf der künstlerisch entscheidenden Frühphase der Arte Povera liegt.

Der grosse Aufbruch

Rainald Schumacher im Gespräch mit der Sammlerin Ingvild Goetz

Rainald Schumacher: Über einhundert Werke der Künstler, die unter dem Begriff der Arte Povera Teil der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden sind, bilden einen wichtigen Bestandteil in Ihrer Sammlung zeitgenössischer und ganz aktueller Kunst. Wann haben Sie begonnen, sich für diese italienischen Künstler zu interessieren?
Ingvild Goetz: Mein Interesse begann Anfang der 1970er-Jahre parallel zu den politischen Veränderungen in Deutschland, die mich sehr beschäftigten. Bei einer Reihe von Künstlern aus dieser Zeit passierte etwas Ähnliches. Sie wollten mit Traditionen brechen. Arte Povera läutete eine völlig neue Kunst-Ära ein. Sie brach mit der traditionellen Malerei und Bildhauerei und setzte sich gleichzeitig mit ihrem italienischen Kulturerbe auseinander: Die Künstler interessierte die Kunst der Strasse. Sie brachten gefundene und fertige Materialien ein und kreierten damit Installationen und Skulpturen, die oft auch von Performances begleitet wurden. Das Tafelbild war weitgehend verpönt und hatte eher einen performativen  oder installativen Hintergrund.

Die frühen 1980er-Jahre waren geprägt von A New Spirit in Painting. Die expressiv gestische Malerei feierte eine Art Wiedergeburt. Die vermeintliche Kopflastigkeit von Minimal-Art oder Concept-Art sollte überwunden werden. Sie aber konzentrierten sich in dieser Zeit, die ja dann auch den Aufbruch in Ihre bis heute andauernde Tätigkeit als Sammlerin markierte, deutlich auf die Künstler der Arte Povera?
Die Arte Povera entsprach mir mehr als die damals so hochgejubelte Malerei, auch mehr als zum Beispiel Minimal- oder Pop-Art. Sie musste zum Teil regelrecht entschlüsselt werden. Das ist etwas, was ich sehr mag. Sie nahm viel Bezug auf klassische Themen, auch auf die Tradition, um sich gleichzeitig von ihr zu lösen. Und sie gefiel mir optisch. Ich musste mich regelrecht in eine spezifische Ästhetik hineinarbeiten.

Wie können wir uns das vorstellen, eine Kunstsammlung nimmt ihren Anfang,
wie geschah das ganz praktisch?
Nachdem mir aus der Galerietätigkeit wenige Arbeiten von Arte-Povera-Künstlern übrig geblieben waren – darunter allerdings die grossartigen Leinwände von Jannis Kounellis Senza titolo, 1959, und Senza titolo, 1961, beschloss ich, einen grössten Teil meiner unstrukturierten Sammlung zu verkaufen und die Arte-Povera-Sammlung zu komplettieren. In den Jahren 1991 und 1992 konnte man diese Werke noch preiswert erhalten. Wir besuchten Sammler, von denen die meisten auch bereit waren, Arbeiten herzugeben. Wir waren erstaunt, wie katastrophal die meisten Kunstwerke gelagert waren. Eine wichtige Arbeit von Giulio Paolini entdeckten wir in einem Keller, in dem das Wasser zwanzig Zentimeter hoch stand. Darin befanden sich die meisten Kunstwerke – verschimmelt und verrottet. Bei einem anderen Sammler, der Kettenraucher war, entdeckten wir einen frühen Pistoletto, der mit Tabakrückständen regelrecht zugekleistert war.
Als ich Michelangelo Pistoletto fragte, wie ich denn diese Arbeit wieder in ihren Urzustand versetzen kann, meinte er, am besten mit einen Putzmittel wie Sidolin. Gott sei Dank hielt mich seine Frau davon ab, sofort nach der Flasche zu suchen. Eine Restauratorin hat später diese Arbeit fachmännisch zum Glänzen gebracht.

Wie war die Situation in Italien bei den Galerien in den 1990er-Jahren?
Die Galerien waren unglaublich lebendig und sehr aktiv. Allerdings gab es einen völlig anderen Umgang mit den Kunstwerken. Während wir mit weissen Handschuhen die Heiligtümer von hier nach dort trugen, wurden in vielen Galerien die Leinwände gerollt, Arbeiten zusammengefaltet und unverpackte Objekte verschickt. Ich erinnere mich noch an die erste Messe in Bologna von 1974, an der ich als Galeristin teilgenommen hatte. Es gab quasi keinen Besucher, so fingen wir Galeristen an, Kunstwerke zu tauschen, zu kaufen oder gegenseitig zu verleihen. Sodass auf diese Weise ein reger interner Handel begann. Ich kaufte mir eine grossartige Arbeit von Kounellis.
Zu meinem Entsetzen brachte mir zwanzig Minuten später der italienische Galerist eine eng zusammengerollte Arbeit, die vorher noch als grosse Leinwand prächtig an der Wand hing. Er meinte, das Verfahren wäre doch sehr praktisch, so könne ich die Arbeit gleich im Flugzeug mitnehmen. Das Ergebnis ist, dass sich in den etwa vierzig Jahren so viele Craquelés gebildet haben, dass sie kaum noch ausgeliehen werden kann.

Welche Werke waren regelrechte Entdeckungen?
Zum Beispiel die bereits erwähnte Arbeit von Giulio Paolini aus dem Keller eines Sammlers. Ich habe lange danach gesucht. Paolini selbst war hocherfreut, diese Arbeit wiederzusehen. Für ihn war sie schon verschollen. Das Gleiche galt für Kounellis, als er nach vielen Jahren die Skulptur Senza titolo, 1976, wieder entdeckte, die ich einem Galeristen aus der Nase gezogen hatte. Der wollte diese wunderbare Skulptur erst gar nicht hergeben. Oder das kleine Portofolio von Paolini Ritratto dell’artista come modello, 1980, das in einer Edition von 100 aufgelegt wurde, eine wunderbare Arbeit.
Auf zwei Raritäten von Alighiero Boetti bin ich sehr stolz, das sind Ping Pong, 1966, und Buste a Luciano Pistoi, Lavoro postale, 1975–1976. Ja, und dann noch von Mario Merz dieser faszinierende Mantel mit Wachs und Neon, Impermeabile, 1966. Das sind seltene Arbeiten, für die ich mich sehr einsetzen musste, um sie überhaupt kaufen zu können.

Haben Sie etwas gelernt über die Welt, über sich selbst und über die Kunst durch das Kennenlernen und die intensive Auseinandersetzung mit den Werken und dieser ganz eigenen Ästhetik?
Mich hatten hauptsächlich der Bruch und die Auseinandersetzung mit der Tradition interessiert, die mich persönlich ansprachen, auch weil ich, wie schon erwähnt, diese Parallelen zum politisch gesellschaftlichen Umbruch in Deutschland sah. Die Ästhetik war für mich eine Herausforderung, die ich gerne annahm: nämlich meine Sehgewohnheiten zu überprüfen und mich mit einer neuen Sichtweise auseinanderzusetzen.

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