Ben Vautier. Ist alles Kunst? | 21.10.2015 – 22.01.2016
Museum Tinguely
Von Andres Pardey, Kurator der Ausstellung
Einige seiner Bilder subsumiert Ben Vautier unter dem Obertitel der Appropriation. 1995 sagt er darüber:
«Vers 1960 j’ai joué au jeu des Appropriations. La règle du jeu établie par Yves Klein était des plus simples. Il fallait s’approprier et signer en tant qu’œuvre d’art le monde , c’est-à-dire la réalité physique autour de nous. Le seul interdit : ne pas copier , être le premier. Ce jeu se jouait à Nice avec Arman , Yves Klein , etc. Les Chiffons appartenaient à Deschamps , les Emballages à Christo , l’Accumulation à Arman , le Monochrome à Klein , etc. Je me suis donc , dans une période faste , approprié les Trous , les Eaux sales , Dieu , les Vitres , les Coups de pied et un tas d’autres réalités. Entre 1960 et 1963 , en ce qui concerne l’art j’avais développé la théorie du choc à tout prix : il fallait étonner , choquer. Il fallait que mon «nouveau» choque et étonne , d’où certaines appropriations telles que les maladies (peste , choléra) ou les catastrophes (tremblements de terre , bombe atomique , etc.). À l’époque je différenciais mon attitude esthétique de mes positions politiques (j’étais plutôt communiste universaliste). À partir de 1964 , j’abandonnai la théorie du choc pour le choc et pris position pour un monde pluriculturel.
Aufbauend auf dem oben zitierten Begriff des Readymade und der Geste von Marcel Duchamp, einen Alltagsgegenstand als Kunstwerk zu definieren, entwickelte Ben den Anspruch, mit seiner Signatur und seinem Willen alles zu seinem Kunstwerk erklären zu können. Dies umfasste alltägliche Dinge wie Löcher, dreckiges Wasser, Grosses wie Nizza, den Horizont, ganz Grosses wie Gott oder den Tod, Schwieriges wie Menschen, die Lüge und die Wahrheit und Schreckliches wie Katastrophen wie das Erdbeben von Agadir oder den Atombombenabwurf über Hiroshima. Und natürlich signierte Ben auch sich selbst.
Damit löste Ben zu Beginn der 1960er-Jahre einen Anspruch der Kunst auf umfassendes Erleben und Beherrschen der Welt ein und belegte seine Aussage damit, dass alles Kunst sei. Eine Aussage, die er in neuerer Zeit in Zweifel zu ziehen beginnt.
Diese künstlerische Strategie gilt es näher zu ergründen, um damit den Weg zum Verständnis der Kunst – und der Philosophie – Ben Vautiers zu öffnen. Zunächst die Grundlagen: Ben kommt als Sohn eines Schweizers, der einer Künstlerfamilie entstammte, und einer Französin, deren Familie ein Teppichhandelsimperium in Smyrna in der Türkei besass, 1935 in Neapel zur Welt. Bei Kriegsausbruch geht die Familie in die Schweiz, die Mutter reist alleine mit Ben weiter nach Izmir, wo die zwei den Krieg verleben. Nach Stationen in Zypern, Alexandria in Ägypten, Neapel sowie Lausanne lässt die Mutter sich mit Ben 1949 in Nizza nieder. Ben besucht noch kurze Zeit mit mässigem Erfolg die Schule, bevor er in einer Buchhandlung zu arbeiten beginnt. 1958 übernimmt er schliesslich eine Papeterie, die er aber zu einem Secondhand-Plattenladen umbaut. Der Laden befindet sich an der rue Tondutti-de-l’Escarène 32. An derselben Strasse ist auch die Kunstakademie von Nizza.
Ben frequentiert den wichtigen Treffpunkt Nizzas, die Promenade des Anglais, und lernt so junge Künstler wie Yves Klein oder Arman kennen. Diese bilden den Kern einer ausserordentlich lebhaften und sehr auf Unabhängigkeit – insbesondere vom Zentralismus aus Paris – bedachten Kunstszene. Später wird man diese Künstler und weitere etwa 25 zur École de Nice zählen: eine Gruppe, die sich nicht durch einen gemeinsamen Stil oder eine gemeinsame Kunstauffassung definiert, sondern dadurch, dass ihre Mitglieder aus dem Süden Frankreichs und aus der Gegend von Nizza stammten – oder dort arbeiteten.
Die ersten Werke von Ben sind abstrakte Formen, während einer kurzen Zeit dominiert die auf das Elementarste reduzierte Form einer Banane. Erst nach einer Intervention von Yves Klein beginnt Ben, seine Schriftbilder, die er in seinem Laden als Beschriftung anfertigt, als Kunstwerke zu verstehen und auszustellen. Es gibt frühe Bilder, die in ihrer Ästhetik ganz nah an Werbetafeln liegen oder an Hinweisschildern, die den Kunden leiten sollten. Ebenso früh entstehen aber auch Schriftbilder, die ein ganz anderes, formales und inhaltliches Konzept erkennen lassen: Ben schreibt «Ben» auf eine Holztafel, er schreibt «beau» oder «Lolita». Er stellt also nicht dar, sondern ersetzt das Selbstporträt, die Schönheit oder das Mädchenbildnis durch die Bezeichnung, er überlässt es dem Betrachter, in seiner Vorstellung das Bild entstehen zu lassen. Ein ungeheurer Schritt in einer Zeit, in der die monochrome Malerei eines Yves Klein oder die Akkumulationen von Arman in Künstlerkreisen zwar bewundert wurden, darüber hinaus aber noch weitgehend Unverständnis auslösten.
Bald aber kommen weitere Begriffe dazu, die den Rahmen von Bens Kunst noch einmal erweitern. «trou», «rien», «tout», Ben macht sich 1960 daran, alles zu unterschreiben, und für sich und seine Kunstwelt zu reklamieren.
Hatten Yves Klein 1947 den Himmel und Arman die Erde signiert, so signierte Ben den Horizont und 1961 das Universum, er erweiterte die Grenzen seiner Signatur bis ins Unwägbare, Unergründliche, bis zu «dieu» und «la mort». Alles sollte Kunst sein dürfen, nichts, niemand, keine Sache und kein Gedanke sollte aussen vor bleiben müssen. Und erst durch die Kunstdefinition, die Ben vornahm, wurde der Gegenstand seines Bildes wirklich real. So wie das Pissoir von Marcel Duchamp erst durch seine Erhebung in den Stand eines Kunstwerks eine Realität und eine Präsenz ausserhalb der Toilettensphäre erhielt. Erst Duchamp machte das Ding zu einem Objekt, über das sich, über rein funktionale Fragen hinaus, nachdenken liess und nachzudenken sich lohnte. Das Konzept der «Appropriations», wie Ben die unter dieser Prämisse entstandenen Werke nannte, ist eine Konzeptkunst avant la lettre. Henry Flynt, mit dem Ben Vautier später im Rahmen von Fluxus eng verbunden war, hatte den Begriff 1961 geprägt. In seiner Definition ist der Begriff der Konzeptkunst eng an den Gebrauch der Sprache gebunden – und damit verbindet sich Bens Kunst mit dieser Definition noch enger. Ben hatte als Autodidakt, als Verkäufer gebrauchter Schallplatten und als Inhaber des ohne Zweifel am verrücktesten dekorierten Ladens der Stadt in Nizza ein Werk begründet, das seine Position in der Kunstwelt als
originellen, theoretisch fundierten und ästhetisch gefestigten Künstler definierte.