Archiv der Kategorie: Fondation Beyeler, Riehen/Basel

Auguste Rodin – EROS als Mythos und kreatives Prinzip

EROS – Rodin und Picasso
06.08. – 07.10.2006 | Fondation Beyeler
Die Fondation Beyeler zeigt von August 2006 bis Februar 2007 eine aussergewöhnliche Ausstellung in zwei Teilen, in deren Mittelpunkt der Begriff EROS steht. Der erste Teil dauert bis zum 07.10.2006 und präsentiert eine Begegnung von Werken zweier grosser «Erotiker» der Kunst des späten 19. und des 20. Jahrhunderts: Auguste Rodin und Pablo Picasso. Der zweite Teil präsentiert ab 08.10.2006 im Überblick zentrale Aspekte der Thematik für den ganzen Zeitraum der Moderne.

Von Philippe Büttner*

Eros … mit Sicherheit ein Urthema der Kunst! Und seit der Antike eines, das eng mit dem Bereich des Mythologischen verbunden war. Dies gilt in starkem Masse auch noch für Auguste Rodin und Pablo Picasso. Doch zuvor hatten drei grosse Maler das Erotische erstmal aus der allzu wortreichen klassischen Verbindung mit dem Mythologischen lösen müssen: Um 1800 malte Goya seine berühmte «Maja Desnuda», keine Venus, sondern eine schöne, nackte, junge Frau, der freilich – zwecks Tarnung für den Besitzer – manchmal die bekleidete, wenn auch noch immer sehr erotische «Maja Vestida» vorgeblendet werden musste. Anders als in Renaissance und Barock bedurfte es nun in der Tat keines Mythos mehr, um das Erotische zum Thema monumentaler Kunst zu machen. Vollends unterminiert werden die alten Ideale einer mythologisch gestützten Erotik 1863, als Manet in seiner Olympia eine gelangweilte Prostituierte in die hehre Position der liegenden Venus schlüpfen liess. Und dann kam drei Jahre später noch ein weiterer Revolutionär, Courbet, und malte jenes ominöse Bild, das der Direktor des Musée d’Orsay in Paris, will er keine Scherereien, noch heute nicht an allzu prominenter Stelle seines Museums hängen darf. Gemeint ist «L’origine du monde» (Der Ursprung der Welt) von 1866, ein kleines Gemälde, in dem der Maler unseren Blick zwischen die geöffneten Schenkel einer liegenden nackten Frau zoomt, die auf die Teile ihres Körpers zwischen Knie und Brüsten fragmentiert ist. Courbet stellt das Erotische hier also mit Mitteln dar, die aus dem Bild der liegenden Frau eine Art Unterleibsporträt machen – und somit mittels einer Reduktion, die einer rein pornografischen Instrumentalisierung gefährlich nahe kommt. Wenn letztlich aber auch dieses extreme Bild als erotisches Kunstwerk durchgehen mag – und nicht als blosse pornografische Darstellung – so deshalb, weil darin noch immer das Interesse des Künstlers an dem spürbar bleibt, was ein Kunstwerk vermag.
Wie auch immer, so sieht jedenfalls die Bühne aus, die Rodin betritt. Die Ausstellung «EROS – Rodin und Picasso» zeigt von ihm, neben plastischen Werken, eine bedeutende Gruppe jener für die damalige Zeit provokativ erotischen Aquarelle, die noch heute eine einzigartige Wirkung entfalten. Vom kruden Courbet aus gesehen wirken Rodins Erotika freilich beinahe pantheistisch. Ein flutender Reigen von Körpern, Schössen, hingehauchten Liebesbegegnungen, verführerischen Posen, gewiss, aber zugleich bis oben gefüllt mit der wunderbaren Utopie der Beseeltheit des Körpers. Oder anders gesagt: Bei Rodin gibt es gar keine Erotika. Es gibt allein – und man könnte dies in gewisser Weise auch von Picasso sagen – seinen grundsätzlich erotischen Zugang zur Darstellung des Menschen. Rodin war ein Prometheus. Er begriff den menschlichen Körper als ein Stück Urmasse, das er in einer Art frühmodernem Schöpfungsfuror auf der einen Seite nach Belieben fragmentierte, auf der anderen aber in erotischer Weise aus der plastischen Masse heraus neu konfigurierte und lesbar machte. Wobei gerade im Hinblick auf das Fragmentieren bei Rodin zu sagen ist, dass dies in keinster Weise mit dem pornografisch anmutenden Herauszoomen des Geschlechts bei Courbet zu tun hat. Rodin fragmentiert nicht, weil er zynisch nur den Teil zeigt, der eben gerade besonders interessiert, sondern weil er im Teil das Ganze besser zu zeigen vermag.
Das ist das grossartige Drama, das sich in «Iris», einem erotischen Hauptwerk der Fondation Beyeler, ausdrückt. Ursprünglich einem geplanten Monument für Victor Hugo zugedacht, wurde die Figur von Rodin konzeptuell aus ihrem Kontext gelöst und wird nun – ohne Kopf, mit nur einem Arm – in fragmentierter Ganzheit vor uns aufgeklappt. Die Götterbotin! Die sich in einer Art ekstatischen Turnerei gerade loszuschnellen scheint, eine Botschaft zu übermitteln. – Was im Übrigen aber nicht heisst, dass wir uns hier wieder im Banne einer mythologischen Inhaltlichkeit der Zeit vor Goya und Manet befänden. Rodins erotische Mythologie meint etwas zuvor noch nicht Dargestelltes: jenen Urmoment der Schöpfung – tatsächlich «l’origine du monde» –, in dem Kreatur und Kunstwerk eins werden können. Im Unterschied zum Bild von Courbet ist dabei das Erotische – in diesem Fall die sexuelle Ausstrahlung des Körpers, des zur Schau gestellten Geschlechts von «Iris» – nicht aggressives Ziel der Darstellung, sondern ihr ganz selbstverständliches Zentrum.
Was Rodins erotische Aquarelle anbelangt, so entstanden sie vornehmlich ab 1890, also in den späteren Jahren seines Lebens. Zu Hunderten und Aberhunderten fertigte der Künstler diese Blätter an. Oft hatte er mehrere Modelle gleichzeitig anwesend, die er sich möglichst natürlich bewegen liess, und versuchte, in blitzartigem Strich besondere Positionen der Körper festzuhalten, die schon Rilke faszinierten. Der Dichter entdeckte darin «… alle Unmittelbarkeit, Wucht und Wärme eines geradezu animalischen Lebens», womit er natürlich nicht zuletzt die besondere erotische Dimension dieser Arbeiten meinte. In der Tat nehmen die dargestellten Modelle nicht selten – ob mit weit gespreizten Beinen oder dem Künstler demonstrativ entgegen gestreckten Geschlecht – äusserst explizite Körperhaltungen ein. Mit dieser Direktheit der Blätter Schritt halten kann nur ihre enorme künstlerische Dichte. Die hingeworfenen Lineamente, die eine Figur eher zu schaffen scheinen als sie abzubilden, sind von einzigartiger Qualität. Ebenso beeindruckend ist das unverwechselbare Zusammenspiel zwischen den hart gezeichneten Umrissen und der fliessenden Membran der aquarellierten Farbhaut, die sich oft nicht gänzlich dem Diktat der Linien unterwirft.
Rodin selber machte um das Extreme, provokativ Wirkende solcher Werke kein Aufhebens. Allenfalls sagte er, wie Anne-Marie Bonnet zitiert: «… in der Kunst kann es Unsittliches nicht geben, die Kunst ist immer heilig.» Im Übrigen betonte er die besondere Qualität der Lebendigkeit, die diesen schnell entstandenen Blättern eignet und wies auf die besondere Bedeutung der Schönheit hin, die er im weiblichen Körper fand. Was der Künstler in diesen Blättern suchte, ist also jedenfalls nicht einfach nur der erotische Effekt an sich. Vielmehr strebt Rodin hier danach, parallel zu der extremen Zuspitzung des Erotischen zu einer äusseren Formulierung der Möglichkeiten seiner Kunst zu gelangen – um sich so selber immer wieder von Neuem in jenen erotischen Zustand des «Ursprungs der Welt» zu versetzen.

* Philippe Büttner ist Kurator der Fondation Beyeler

Matisse – Kunst auf der (Scheren-)Spitze

Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 23.07.2006 | Fondation Beyeler

«Mit der Schere zeichnen. – Frisch in die Farbe hineinschneiden erinnert mich an den direkten Meisselschlag des Bildhauers». Henri Matisse, «Jazz», 1947

Von Daniel Kramer

Henri Matisse, Les bêtes de la mer, 1950 © Pro Litteris
Henri Matisse, Les bêtes de la mer, 1950 © Pro Litteris

Jazz» nennt Henri Matisse seine Publikation, die er 1947 veröffentlicht hat und welche im Foyer der Fondation Beyeler den Auftakt zur grossen Matisse-Ausstellung bildet. Mit «Jazz» rücken die Scherenschnitte ins Zentrum von Matisse’ Arbeit. Die Papiers découpés setzen sich von der traditionellen Ölmalerei ab wie Jazz von der klassischen Musik. Sie überraschen durch neuartige Klänge, durch ungewohnte Harmonien, Rhythmen und insbesondere durch gewagte Farb- und Formimprovisationen. Matisse’ Scherenschnitte sind von unerhörter Frische. In scheinbarer Leichtigkeit lässt der Künstler die knallbunten Papierstücke aufeinander prallen. Die Farben werden nicht mehr ineinander vermischt, sondern bleiben hart nebeneinander stehen. Die Schnittkante übernimmt, was früher der Zeichenstift geleistet hat. In rasantem Tempo fährt Matisse mit der Schere in die bemalten Papierbögen. Es gibt keine Vorzeichnung, die Schere holt sich die Farbbrocken aus dem Papier heraus. Zeichnen mit der Schere nennt Matisse dieses Verfahren:
«Der Scherenschnitt erlaubt es mir, unmittelbar in die Farbe zu zeichnen. Für mich bedeutet dies eine Vereinfachung. Statt die Kontur zu zeichnen und die Farbe darin zu platzieren, zeichne ich jetzt direkt in die Farbe… Diese Vereinfachung garantiert mir eine Genauigkeit in der Vereinigung zweier Mittel, die zu einem einzigen werden… Dies ist kein Ausgangspunkt, sondern ein Endpunkt.»
Nach dem Herausmeisseln folgt das Anordnen der Farbformen auf Papier und Leinwand – das Komponieren. Die einzelnen Elemente werden mit Stecknadeln provisorisch fixiert. Erst wenn die definitive Lösung gefunden ist, wird das Ganze aufgeklebt.
Das auf der oben abgebildete Werk «Les bêtes de la mer» (1950) erinnert noch an die Bildseiten von «Jazz». Der grossformatige Papierschnitt wirkt verspielt und – im Gegensatz zu «Nu bleu I»von 1952 – ausgesprochen erzählerisch. Die «Spielfelder» bzw. Meerestiefen mit den verschiedenen Farb- und Formimprovisationen sind turmartig übereinander geschichtet. Erst mit der Zeit entdecken wir über die scharf geschnittenen Grenzen hinweg Korrespondenzen und Zusammenklänge. So die blaue Spiralform links oben und rechts und die wundervoll aufschwingenden weissen, blauen und schwarzen Bänder im oberen und unteren Bildbereich. Trotz des Titels werden nicht in erster Linie «Les bêtes de la mer» zum Bildthema gemacht. Nicht Fische oder Schlangen werden gezeigt, sondern das Gleiten und Schlängeln, das Wellen, Hochschiessen und Krabbeln. Matisse’ Komposition bleibt weitgehend abstrakt. In der Transparenz des Wassers werden Bewegungsmotive und Farbklänge festgehalten. Matisse’ Farbformen haben die Fähigkeit, sich zu verwandeln. Sie sind mehrdeutig. Das ist ihre Qualität. Sie verweisen in ihrer knappen, verdichteten Form auf verschiedenste Inhalte. Auch Matisse’ Urpflanze, die im tiefen Meeresgrund liegende Alge, erfährt – genau wie die sitzende, liegende oder stehende Frau – immer wieder überraschende Metamorphosen. Die «Weisse Alge» auf rotem und grünem Grund (1947, Abb. S.19) wird bei näherem Hinsehen zur Tänzerin, der «Blaue Frauenakt I» (1952) verwandelt sich in ein abstraktes, lichtvolles Ornament.

Henri Cartier Bresson, Henri Matisse, Villa Le Rêve, Vence um 1944
Henri Cartier Bresson, Henri Matisse, Villa Le Rêve, Vence um 1944

Keine Erzählung: Ein Klang «Nu bleu I»(1952) besteht nur aus blauem Papier und Zwischenräumen. Die blauen ineinander verschlungenen Papierstreifen und die lichterfüllten Zwischenräume erzeugen eine subtile Räumlichkeit und einen wundervollen Klang. Matisse, 83 Jahre alt, bringt in diesem aussergewöhnlichen Werk nochmals alles ins Spiel, was ihn sein Leben lang beschäftigt hat: die Farbe, das Licht, die Form, den Raum und natürlich die Frau. Er hat alles Überflüssige weggeschnitten. Am Schluss seines Lebens gelingt es ihm, alle formalen und inhaltlichen Probleme mit einem einzigen Schlag zu lösen. Die Papiers découpés bedeuten das Ineinssetzen von Zeichnung, Form und Farbe.
Der «Blaue Frauenakt I» hat das Wasser und den freien Himmel in sich aufgenommen und versetzt den Raum in delikate Schwingungen. Mit einer einzigen Bewegung hat Matisse die Linie zur Farbe und den Umriss zur Oberfläche gefügt. «Nu bleu I» ist ein bezauberndes Ornament, ein Bildzeichen, das sofort erfasst wird. Keine Erzählung (keine krabbelnden Meerestiere) – sondern ein einziger Klang. Eben: Einklang.
Nach seinen zahlreichen Farb- und Formimprovisationen, nach all den tollkühnen Experimenten mit der Schere hat sich Matisse im neuen Medium des Scherenschnitts noch ein letztes Mal dem alten Thema der sitzenden Frau zugewandt. Seit Anbeginn hat Matisse Frauenakte gemalt, gezeichnet, modelliert. Immer wieder hat er sich bemüht, das Thema neu zu fassen, die Frau im Innenraum – das Hauptthema der Riehener Ausstellung – neu ins Bild zu setzen: bekleidet, unbekleidet, anonym, als Porträt, als Tänzerin, als Odaliske. Die Frau im Innenraum – das «Frauenzimmer» – ist in diesen Inszenierungen manchmal mehr Zimmer, manchmal mehr Frau, aber immer EIN BILD. Auch die Odaliske, die türkische Haremsdame, ist für Henri Matisse keine erotische, sondern eine malerische Eskapade. Eine Fiktion, die Bildrealität wird. Odaliske heisst «Frau des Zimmers» oder eben: «Femme à l’intérieur».
Matisse malt keine schönen Frauen, sondern schöne Bilder. Achten Sie in der Ausstellung darauf, wie er alle herkömmlichen Schönheitsmerkmale unterdrückt: Es werden kaum Haare oder Hände oder Füsse gemalt. Auch das Gesicht seiner bildhübschen Modelle und insbesondere die Augen werden kaum je ausgeführt. Der Augenkontakt soll nicht mit dem Modell, sondern mit dem Bild aufgenommen werden. Nur selten geht es um das individuelle Antlitz der Frau, immer aber um das Gesicht der Malerei. Vom schönen, beglückenden Modell zur schönen, beglückenden Malerei findet eine geheimnisvolle Übertragung statt. Wie Matisse dieses Kunststück schafft – von «La liseuse» (1895) bis «Nu bleu I» (1952), zeigt die Ausstellung in der Fondation Beyeler aufs Vortrefflichste.

Die Blonde in Rosa

Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 09.07.2006 | Fondation Beyeler

«Nu rose»: Bildbetrachtung zu einem Hauptwerk in der Matisse-Ausstellung

Von Ulf Küster

Obwohl die Bilder von Henri Matisse längst zu Ikonen der Moderne geworden sind, blieben viele Details seiner Lebensgeschichte bis vor kurzem völlig unbekannt. Mit dem Erscheinen der zweibändigen Matisse-Biografie von Hilary Spurling (2005) hat sich dies geändert. Jetzt ist es möglich, die höchst unterschiedlichen Phasen in Matisse’ künstlerischer Produktion mit den Höhepunkten und Krisen seines Lebens in Verbindung zu bringen. Vielleicht war Matisse ein Künstler, der mehr als andere bestimmte menschliche Konstellationen für seine Inspiration benötigte, wobei er wohl eigentlich gar kein geselliger Mensch im landläufigen Sinne gewesen ist. Essentiell für ihn war Zeit seines Lebens die Präsenz von weiblichen Modellen, ohne die er praktisch nicht malen konnte. Die verschiedenen Phasen seines Werkes waren von der körperlichen Präsenz von Frauen abhängig. Die Jahre zwischen 1935 und 1939 könnten in diesem Sinne als Lydia-Phase bezeichnet werden, weil in dieser Zeit Lydia Delectorskaya Matisse’ bevorzugtes Modell gewesen ist, eine junge Frau, die später Assistentin, Haushälterin, enge Vertraute und möglicherweise auch seine Geliebte war. Lydia war als Kind mit ihren Eltern aus Russland nach Frankreich emigriert. Sie hatte seit 1932 Kontakt zur Familie Matisse und war als Gesellschafterin für die schwerkranke Frau von Matisse engagiert worden. Lydia war gross, blond und blauäugig und deswegen eigentlich gar nicht Matisse’ «Typ», dessen Modelle bis dahin eher mediterran brünett gewesen waren. Aber vielleicht war diese Andersartigkeit die entscheidende Inspiration für Matisse, der sich nach der Fertigstellung der Wanddekoration «La Danse» für das Haus des exzentrischen Dr. Barnes bei Philadelphia in einer tiefen künstlerischen Krise befand. Lydia brachte ihn wieder zum Malen. Das Ergebnis ihrer ersten grösseren Zusammenarbeit ist der als «Nu rose» bezeichnete liegende Akt von 1935, der sich als Teil der Cone Collection  im Baltimore Museum of Art befindet und für die Matisse-Ausstellung an die Fondation Beyeler ausgeliehen wurde. Das Gemälde ist eine faszinierende Studie über die Balance von Figur, Farbe und Raum in einem Bild. In 22 verschiedenen Zuständen, die von ihm fotografisch dokumentiert worden sind, hat sich Matisse dem endgültigen Ergebnis angenähert, so lange, bis er das Gefühl hatte, dass alle Bildelemente sich in einem spannungsvollen Gleichgewicht befinden. Alles steht in ausgeklügelter Beziehung zueinander. Da ist zum einen der Frauenkörper, der so gross ist, dass man meint, er würde den Bildraum fast sprengen. Seine Monumentalität und dadurch auch erotische Präsenz, seine geschwungenen organischen Linien werden durch die geometrische Regelmässigkeit des Hintergrundes aufgefangen, vor dem der Akt fast zu schweben scheint. Denn das Bild wirkt einerseits flach und beinahe so, als seien die verschiedenen Ebenen hintereinander gestaffelt; andererseits strahlt gerade der Körper etwas ruhend Voluminöses, Dreidimensionales aus, was mit den unterschiedlichen Rosatönen, mit denen er gemalt ist, und seinen schwarzen Konturen zusammenhängt. Zum anderen ist die Beziehung der Farben untereinander für die Bildbalance sehr wichtig: Im Wesentlichen ist der «Grundakkord» des Gemäldes eine Kombination aus einem grossen, durch regelmässige weisse Linien gegliederten Anteil Blau und zwei kleineren Teilen Rot und Gelb, also eine in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehenden Verbindung der drei Grundfarben. Mit diesen kontrastiert das Rosa der Frau, wenn man so will, die Mischung der Grundfarbe Rot mit dem in diesem Bild «geometrischen» Weiss.
Und dann ist da noch oben, fast in der Mitte des Gemäldes, das gelbe Farbgebilde mit den rotbraunen und rosa Ornamenten. Vergleicht man die Fotografien der früheren Zustände des Bildes, sollte das ursprünglich ein Blumenstrauss sein: e in Mittelding zwischen flachem Fleck und räumlichem Objekt. Wenn man dies aus dem Bild entfernt, würde die gesamte Komposition nicht mehr stimmen. «Nu rose» ist in Matisse’ künstlerischer Entwicklung eine Art Meilenstein, auf seinem Weg zu immer radikalerer Vereinfachung von Figur und Form bis hin zu den zeichenartigen «Papiers découpés» seiner letzten Jahre.

Henri Matisse – Die Kunst, das Glück zu malen

Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 09.07.2006 | Fondation Beyeler

Die Fondation Beyeler zeigt die erste grosse Matisse-Ausstellung in der Schweiz seit fast 25 Jahren und rückt dabei das zentrale Thema des Künstlers ins Licht: den Dialog zwischen der sinnlichen Präsenz der weiblichen Figur und dem künstlichen Paradies des sie umgebenden Innenraums. Vertreten sind alle Schaffensperioden des Künstlers.

Von Philippe Büttner

Henri Matisse, La table noire, 1919 © Succession H. Matisse / ProLitteris, Zürich
Henri Matisse, La table noire, 1919
© Succession H. Matisse / ProLitteris, Zürich
Im Grunde gibt es nur Matisse!» – kein Geringerer als Pablo Picasso hatte diesen Satz anerkennend ausgerufen. Den Spanier und den grossen Koloristen aus Nordfrankreich verband ein tiefer gegenseitiger Respekt, trotz der grundlegenden Verschiedenheit ihres Schaffens, das die Kunst der Moderne so nachhaltig und auf so unterschiedliche Weise prägen sollte: Hier Picasso als rücksichtsloser Ekstatiker der Verformung, der der Welt den Frieden der Form nicht gönnen mochte. Ihm gegenüber der harmoniefähige Matisse, der vom Traum einer Versöhnung von Welt, Farbe und Form beseelt zu sein schien. Freilich lassen sich die beiden grossen Künstler nicht auf eine solch klischeehafte Typisierung ihres Schaffens reduzieren. Dies gilt für Picasso, von dem gerade die letztjährige Ausstellung in der Fondation Beyeler ungewohnte Facetten offenbarte – und es gilt noch mehr für Henri Matisse. Denn bekanntlich ist der französische Maler, Bildhauer und Grafiker (1869-1954) alles andere gewesen als ein blosser Anbieter einer versöhnlichen «Moderne light», die im Gewand harmonischer Farben, Muster und einer üppig-bürgerlichen Sinnlichkeit daherkommt.
Die grosse Riehener Ausstellung, die mit dem Hauptthema «Figur im Raum» gleichsam in den Kern von Matisse’ künstlerischer Arbeit leuchtet, bestätigt dies aufs Schönste. Zwar – und zum Glück – begegnen wir auf Schritt und Tritt jener bestrickenden Opulenz von Matisse’ Bildwelten. Doch spürt man zugleich, dass diese nicht Selbstzweck ist. Denn alleiniger Mittelpunkt von Matisse’ Interesse sind die Möglichkeiten der Malerei. Ihr möchte der Künstler eine völlig neue Grundlage verschaffen. Das Besondere dabei: Er tut dies unter Beibehaltung der Tradition des gegenständlichen Bildes. Wie konnte Matisse hier Neuland gewinnen? Als wichtiger Punkt erwies sich für ihn, die räumliche Ordnung des Bildes neu zu überdenken. Die traditionelle Vorstellung des Bildes als «Guckkasten» war bereits seit Manet, van Gogh und vor allem auch Cézanne hinfällig geworden. Matisse suchte nun nach einer Möglichkeit, im Kielwasser dieser ersten Modernisten die Bildfläche noch stärker als Grundbedingung aller Malerei zu thematisieren. Bahnbrechend wurde für ihn dabei die Entdeckung gemusterter Stoffe als Bildmotiv. Da er aus der Gegend der traditionellen nordfranzösischen Textilproduktion stammte, war ihm diese textile Formenwelt schon sehr vertraut. Es fehlte nur ein konkreter Anlass, um ihn auf die Bildmächtigkeit dieser Muster zu lenken.
Im Jahre 1903 war es soweit. In einem Pariser Schaufenster entdeckte Matisse – eine berühmte Episode – ein Tuch mit schwingenden blauen Mustern auf Weiss, eine «Toile de Jouy», die ihn sofort faszinierte. Er erwarb das Stück und behielt es bis zu seinem Lebensende. Der Stoff taucht fortan in vielen Hauptwerken des Künstlers auf und verzaubert auch die Riehener Ausstellung. Weshalb wurde er so wichtig? Mit einem derartigen Muster als Hintergrund konnte Matisse das alte Modell des Bildes als Guckkasten zur Erzeugung von Raumillusion vollends sprengen. Denn anstelle von «Raum» zeigte er nun als Bildgrund einfach Stoffe, die genauso flach waren wie die ebenfalls gewebte Leinwand, auf der er sie darstellte. Zudem überschwemmten die ornamentalen Stoffmuster die Bildfläche auf einen Schlag mit einem pulsierenden Rhythmus, der das Bild einer höheren formalen Ordnung als der sichtbaren Wirklichkeit zuwies. Nun ist aber – und das ist das Entscheidende – Matisse kein Maler von Mustern. Und daher geht es in all diesen Bildern immer auch darum, der strömenden Energie der Muster etwas entgegenzusetzen und das Ornament wieder in Malerei zu verwandeln. Deshalb setzt der Künstler Figuren, Möbel und Ähnliches als Garanten von Raum mitten in die vibrierende Flächenwelt der Muster. Auf diese Art entsteht aus der körperhaften Gestalt des Menschen und der zeitlosen Dynamik des abstrakten Musters etwas ganz Neues: Das gegenständliche, aber zugleich flächentaugliche moderne Bild.
Dass darüber hinaus gerade der weibliche Körper mit all diesen schwingenden Ranken und Mustern sehr gut zur Geltung bzw. ins Gespräch kommt – das ist ein Vorteil, den Matisse sozusagen gerne in Kauf nahm. Denn so konnten seine Bilder insgesamt jene bestimmte dekorative Qualität erreichen, die dem Künstler wichtig war. Die Ausstellung der Fondation Beyeler erlaubt es, Matisse’ Vision des modernen Bildes an zahlreichen Hauptwerken zu studieren. Vertreten sind alle Werkphasen des Künstlers. Von atemberaubender Dichte sind nicht zuletzt die Werke von Matisse’ besonders radikalen Jahren der Epoche des Ersten Weltkriegs. Hier überschreitet der Künstler bisweilen die Grenze zu einer Malerei, in der das Figurative sich einer geheimnisvollen, nahezu abstrakten Sphäre nähert. Aus diesen Jahren stammen auch einige in der Ausstellung vertretene Porträts, die zum Besten gehören, was Matisse je geschaffen hat. In diesen Bildern wird ein dramatisches Ringen des Künstlers mit der Präsenz des Individuums sichtbar, das sich der dekorativen Vereinheitlichung des Bildes widersetzt.
Ganz anders dann das Menschenbild in den Jahren nach Matisse’ Umzug nach Nizza, ab 1919: In diesen – seinen vielleicht sinnlichsten – Bildern macht der Künstler seine Leinwände zu künstlichen Paradiesen aus Mustern, Stoffen und orientalischen Requisiten. Sie werden von rehäugigen Schönheiten bevölkert, die sich – gründlich von jeder Individualität befreit – als Fiktionen ewiger Musse im Zwischenreich zwischen Fläche und Raum räkeln. Die Ausstellung gipfelt im grossartigen Spätwerk – den letzten Interieurs und den finalen Scherenschnitten. In diesen «Papiers découpés» findet sich übrigens auch – worauf Daniel Kramer aufmerksam gemacht hat – ein letzter, überraschender Höhepunkt des erwähnten Dialogs zwischen Frauenkörpern und ornamentalen Bildgründen: Nun sind es die aus bemaltem Papier herausgeschnittenen Körper selber, die sich mit dem weiss bleibenden Bildgrund zu einem figürlichen Ornament aus Farbe und Licht verzahnen.
Angesichts dieses stupenden, unerhört dichten und so inspirierenden Œuvres eines der ganz Grossen der Malerei fällt einem eine etwas merkwürdige Frage ein: «Darf Kunst denn glücklich machen?» – Die Antwort, so viel Voraussage sei riskiert, dürfte in der Ausstellung positiv ausfallen. Denn auf diesem Niveau mündet die Kunst, das Glück zu malen, in die Möglichkeit, es im Bild zu finden. Wir müssen nur genau hinschauen.