Edvard Munch – Zeichen der Moderne
18.03.2007 – 15.07.2007 | Fondation Beyeler
Die erste Sonderausstellung im Jubiläumsjahr widmet die Fondation Beyeler dem norwegischen Maler und Grafiker Edvard Munch (1863–1944). Im Mittelpunkt der gross angelegten Retrospektive steht die Bedeutung des Künstlers als Vorläufer und Begründer des Expressionismus, dessen Werk einen unentbehrlichen und eigenwilligen Beitrag zur Moderne darstellt.
Von Dieter Buchhart*
Kein Gemälde hat in Norwegen so viel Ärgernis erregt. – Als ich am Eröffnungstag den Saal betrat, in dem es hing, standen die Menschen dicht gedrängt vor dem Bild – man hörte Geschrei und Gelächter», beschrieb Munch später den Sturm der Entrüstung, der ihm bei der Präsentation des Gemäldes Das kranke Kind im Jahr 1886 entgegenschlug. Heute gelten Werke wie Das kranke Kind und das im gleichen Jahr geschaffene Selbstporträt als Ikonen der Moderne. Sie bilden auch als Signum einer radikalen Modernität den Ausgangspunkt der Ausstellung «Edvard Munch – Zeichen der Moderne». Unfreiwillig anerkannten Kunstkritiker bereits früh mit vernichtenden Bildbesprechungen und Vorwürfen wie «roh ausgeführt» oder «halbfertige Entwürfe» Munchs Vorreiterrolle und künstlerische Visionen.
Munchs Auseinandersetzung mit der Einsamkeit, der Liebe und dem Tod war unvergleichlich eindringlich. Er bezeichnete die Krise, die Vergänglichkeit und das Verschwinden des Individuums im Zeitalter der Industrialisierung. Seine Thematisierung der tiefsten menschlichen Gefühle und Grunderfahrungen ist schonungslos und treffend. Sein Werk, das von existentiellen Krisen und Brüchen begleitet wurde, ist zugleich von höchster Konsequenz bestimmt. Munch überschritt die konventionellen Grenzen zwischen künstlerischen Medien wie jene der Druckgrafik, Zeichnung, Fotografie, Collage und Malerei. Mit Werden und Vergehen, Zerstörung und Schöpfung setzte sich der Künstler auseinander in der Auflösung und Verschmelzung von Figuren mit dem Hintergrund, ihrer eigenwilligen Überschneidung des Bildrandes, dem Kratzen in die Farboberfläche bis hin zu seiner sogenannten «Rosskur», dem Aussetzen vieler Werke im Freien bei Regen und Schnee. Dabei experimentierte Munch im Sinne des Fragmentarischen ununterbrochen mit Material und Motiv und operierte dabei mit Kategorien einer neuartigen Kombinatorik und Einbeziehung von Brüchen. Experiment und Zufall sind integraler Teil von Munchs künstlerischem Konzept. Sein Umgang mit dem Material und die Betonung des Prozessualen seiner Arbeiten im Sinne des tatsächlichen Verschwindens von Materie weist ihn über seine Generation hinaus als Vorreiter aus. Mit der «Rosskur» integriert Munch nicht nur den Zufall, sondern auch den natürlichen Zerfall als Werkkomponente in seinen Schaffensprozess. In seinem Spätwerk erklärt er das Prozesshafte und das Temporäre als tatsächlich physisches Verschwinden von Materie zum allgemeinen Ausdruck von Vergänglichkeit seiner materialbasierten Modernität. Munchs Interesse an der Unmittelbarkeit und Experimentalität des Farbauftrags und sein unkonventioneller Umgang mit Motiv und Material öffnete bereits zur Jahrhundertwende einen Ausblick ins 20. Jahrhundert, denn erst Mitte der Vierzigerjahre widersetzten sich Künstler wie Jean Fautrier, Jean Dubuffet, Emil Schumacher oder Jackson Pollock dem traditionellen Verhältnis von Malerei und Form in einer Munch vergleichbaren Radikalität.
Mit mehr als 130 Gemälden und 80 Grafiken ist die Schau «Edvard Munch – Zeichen der Moderne» die wohl umfangreichste Munch-Ausstellung ausserhalb Norwegens nach dem Tod des Künstlers. Mit Munch setzt die Fondation Beyeler ihre konsequente Präsentation von Hauptvertretern der Moderne von Cézanne, Monet, Malewitsch, Mondrian, Matisse und Picasso fort. Es ist ein Novum, dass eine Ausstellung der Frage der Modernität in Munchs Werken nachgeht, diesen vom radikalen jungen Neuerer zum Vorläufer und Begründer des Expressionismus als Meister des Materials und künstlerischen Experiments vorstellt. Die retrospektiv angelegte Themenausstellung ist der Neuentdeckung von scheinbar Altbekanntem verschrieben und vereint neben Ikonen der Kunstgeschichte wie Das kranke Kind, Madonna, Melancholie, Vampir, Pubertät oder Selbstporträt in der Hölle auch zahlreiche selten oder seit dem Tod des Künstlers nicht mehr gezeigte Werke aus zahlreichen öffentlichen und privaten Sammlungen. Munchs höchst farbige Werke sind nicht nur Zeugnisse seines eigenwilligen, sondern auch entscheidenden Beitrags zur Moderne. Als zentrale und innovative Besonderheit seines Werks wird dabei das Thema des Verschwindens und des Entstehens des Motivischen gezeigt. Dieses Grundthema wird sowohl auf materieller wie auf motivischer Ebene nachvollzogen und bietet einen idealen Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit der radikalen Dimension von Munchs Modernität. Diese einzigartige Position des Künstlers wird in Relation zum klassischen Verständnis von Modernität untersucht, die auf jenen Werken fusst, die auch zu den Hauptwerken der Sammlung der Fondation zählen wie jene von Monet, Cézanne und Mondrian bis hin zu Rothko.
Die gezeigten Werke ermöglichen, ausgehend von Munchs frühem Bruch mit dem skandinavischen Naturalismus, die Auseinandersetzung mit seinen malerischen und druckgrafischen Experimenten. So treten in seinen Berliner Jahren (1892–1895) anstelle vom französischen Impressionismus und Postimpressionismus beeinflusster Themen Schilderungen der erlebbaren menschlichen Existenzangst des zivilisierten Menschen, der Einsamkeit und des Schmerzes. Mit Madonna, Pubertät, Kuss oder Vampir schafft Munch jene Themen, die ihn ein Leben lang begleitet haben und die er in der Folge zum Lebensfries kombiniert. Seinen Experimenten mit der Druckgrafik in Paris der Jahre 1896/97 folgen monumentalere und flächiger angelegte Gemälde. Nach unsteten Jahren der persönlichen Krise, zahlreicher Reisen innerhalb Europas lässt sich in der Schau ein charakteristischer Stilwandel hin zu Werken von unvergleichlicher Farbintensität und Expressivität erkennen. Seine Auseinandersetzung mit Fotografie und Bewegung und in der Folge auch mit dem Stummfilm setzt er auch nach seinem nervlichen Zusammenbruch im Jahr 1908 und seiner folgenden Genesung konsequent fort. Die Ausstellung folgt seiner künstlerischen Entwicklung bis hin zu dem fulminanten Spätwerk und der Auflösung seines Selbst in seinen letzten Selbstporträts.
* Dieter Buchhart ist Kurator der Edvard Munch-Ausstellung
Edvard Munch – Zeichen der Moderne
18.03.2007 – 15.07.2007 | Fondation Beyeler
Von Ulf Küster*
Edvard Munch, Madonna, 1894/95Die Faszination Edvard Munchs ist ungebrochen: Seine stark farbigen, expressiv gemalten Bilder, seine Themen, die von den Abgründen menschlicher Existenz und zwischenmenschlicher Beziehungen handeln, sprechen ein grosses Publikum an. Viele seiner Bild-ideen sind zu Ikonen der Moderne, zum festen Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden.
Einer der Gründe dafür ist Munchs Bildsprache, die besonders vom Theater seiner Zeit, vor allem von Henrik Ibsen beeinflusst wurde. Die beiden grossen Norweger lebten nicht nur zur gleichen Zeit, sie schufen ihre Werke auch aus der gleichen Grundstimmung. Munch war vor allem inspiriert von dem Drama Gengangere, deutsch Gespenster, des 35 Jahre älteren Dichters, für das er auf Anregung Max Reinhardts, des grossen deutschen Regisseurs des naturalistischen Theaters, Bühnenbilder entwarf.
Am Ende des ersten Aktes der Gespenster aus dem Jahre 1881 hat die weibliche Hauptfigur, Helene Alving, im Gespräch mit dem bigotten Pastor Manders ein Déjà-vu-Erlebnis, die Schlüsselszene des Stückes: Sie hört, wie sich im Nebenzimmer ihr Sohn Osvald an das Hausmädchen Regine heranmacht, und fühlt sich an ihren verstorbenen Mann erinnert, den Kammerherrn Alving, der vor Jahren eine Affäre mit der Mutter Regines hatte, ihrem damaligen Stubenmädchen. Zu Pastor Manders, dem sie gerade von dieser Episode und von dem ausschweifenden Leben ihres Mannes erzählt hatte, sagt sie «heiser», so wie es die Regieanweisung verlangt: «Gespenster. Das Paar im Wintergarten – es ist wieder da.» Durch die Reaktion des zutiefst erschrockenen Pastors «Was sagen Sie! Regine – ? Ist sie – ?» und durch die bejahende Antwort Helenes dämmert dem Publikum, dass Regine nicht die Tochter des versoffenen Tischlers Engstrand, sondern die Tochter Alvings ist, und dass eine Beziehung zwischen Regine und Osvald, offensichtlich Halbgeschwister, ein Inzest wäre. Darum geht es vor allem in Ibsens Drama: dass man Erbe der Vorväter nicht nur aktiv in den Handlungen ist, sondern auch passiv als Erbe von Auffassungen, Moralvorstellungen und von Krankheiten. Osvald Alving wird am Ende des Stückes wahnsinnig, durch die Syphilis, die er von seinem Vater geerbt hat.
Edvard Munch sah in der Person des Osvald, der im Drama der engen und verlogenen Welt des Pastors die für ihn unverdorbene und viel ehrlichere Welt der Künstlerbohemiens gegenüberstellt, zu denen er sich hingezogen fühlt, viele Ähnlichkeiten mit sich selbst. In Notizen und autobiografischen Aufzeichnungen schrieb er von der «Osvald-Stimmung» und vom «Gespenstergefühl»; er war überzeugt, dass seine gesundheitlichen Probleme von seinen Eltern, vor allem vonseiten der Familie seiner Mutter stammten und: «Von Vaters Seite erbte ich den Wahnsinn.»
Die depressive, zutiefst pessimistische Stimmung von Ibsens Dramen spiegelt sich in Munchs Bildern, die eher ein Fin-de-
Siècle-Gefühl vermitteln als eine Aufbruchstimmung und – allerdings nur in diesem Sinne – keineswegs »modern« wirken. Es wäre aber zu wenig die Gemeinsamkeiten von Munch und Ibsen nur in der übereinstimmenden Darstellung dieses Lebensgefühls zu sehen. Henrik Ibsen hat den Maler weiter gehend beeinflusst. Ibsens grosse Fähigkeit, allein durch Andeutungen und durch Personenkonstellationen das Publikum Sinnzusammenhänge erfahren zu lassen, ohne diese zunächst zu benennen, seine dramatische Technik, im Inneren des Zuschauers eine Art Kartenhaus zusammenstürzen zu lassen, ist von Munch in eigenständiger Weise in Bilder umgesetzt worden.
Dabei griff Munch mit sinnstiftenden Titeln für seine Bilder auf dramatische Mittel der Genremalerei des 19. Jahrhunderts zurück; auch Ibsens Dramen sind ja nicht weit von den pathetisch-sentimentalen Szenen der Salonkunst entfernt. Munchs Bilder mit Titeln wie Angst, Der Tag danach oder Die Mörderin, lassen allein schon durch ihren Namen eine dramatisch-pathetische Szene erwarten. Dagegen ist Munchs Malstil, seine expressive und aus der Perspektive akademischer Kunst des 19. Jahrhunderts völlig exzentrische Verwendung von Farbe alles andere als vormodern, aber es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass das Theatralische seiner Bildtitel seine Wurzeln in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts hat.
Für die Verbildlichung Ibsen’scher Figurenkonstellationen ist das als Gemälde und als Druckgrafik in verschiedenen Fassungen existierende Bild Eifersucht ein besonders gutes Beispiel. Gezeigt wird nämlich genau das von Munch erwähnte «Gespenster-Gefühl»: Der Mann im Vordergrund, von dem nur das Gesicht zu sehen ist, scheint dem Betrachter mitzuteilen, was im Hintergrund passiert. Er ist damit in ähnlicher Position wie Helene Alving, die von Osvald und Regine als «Gespenstern» spricht, welche jedoch vom Publikum im Theater nicht gesehen werden. Das klassische dramatische Mittel der Teichoskopie, der «Mauerschau», hat Munch aufgelöst und in ein Bild umgesetzt, wobei er den ebenso essenziellen wie banalen Umstand benützt, dass Bilder im Unterschied zur Theaterszene keine Sprache haben. Der Mann im Vordergrund scheint nicht das zu sehen, was im Hintergrund vorgeht. Dieses kann etwas Reales sein oder das, was sich in seinem Kopf abspielt. Indem er dies dem Betrachter mitzuteilen scheint, macht er die Szene im Hintergrund zu einer Art bildlicher Sprechblase. Durch die Konfrontation von Gesicht und Szene appelliert Munch, ganz ähnlich wie Ibsen, an die kombinatorischen Fähigkeiten des Betrachters und scheint damit den Titel geradezu überflüssig zu machen. Grundsätzlich scheint die Kunst von Edvard Munch stark mit Sprache in dramatischer Situation, mit dem Theater verbunden zu sein.
Viele von Munchs Interieurs, seien es die verschiedenen Fassungen der Gemälde von Krankenzimmern, seien es die Bilder der Serie Das grüne Zimmer, vermitteln dem Betrachter das Gefühl, in einen Bühnenraum zu blicken. Zwar hat Munch nicht viele wirkliche Bühnenbildentwürfe gemacht, seine Kunst scheint aber in idealer Weise dramatischen Bedürfnissen seiner Zeit entgegengekommen zu sein, was wiederum mit seiner inneren Nähe zu Ibsen zusammenhängt. Der Regisseur Max Reinhardt hat dies sicherlich im Sinn gehabt, als er Munch bat, zur Eröffnung der Berliner Kammerspiele im Jahr 1906 Bühnenbilder für Ibsens Gespenster zu entwerfen. Wir zeigen Entwürfe aus dieser Serie in unserer Ausstellung. Was Reinhardt eigenen Aussagen zufolge ganz besonders an den Entwürfen Munchs beeindruckte, war in der Wahl der Farben die bewusst kalkulierte und teilweise nur graduelle Abweichung von der Norm, von dem, was man als Betrachter eigentlich erwartet. Offenbar versuchte Reinhardt das umzusetzen und begann sich dadurch von Grundüberzeugungen des naturalistischen Theaters zu lösen, hin zu einer expressiveren, dramatischen Form. Bis heute ist dieses Prinzip einflussreich geblieben, wie ein aktuelles Beispiel am Theater Basel zeigt: Beate Fassnachts Bühnenbild zu Besuch, einem Stück des Norwegers Jon Fosse, der als Erbe Ibsens gesehen werden kann.
EROS – in der Kunst der Moderne 08.10.2006 – 18.02.2007 | Fondation Beyeler
Vom stilisierten Objekt zum handelnden Subjekt: Frauen in der Kunst
Von Janine Schmutz*
Die Frau und ihr Körper spielen im Kunstkontext seit jeher eine wesentliche Rolle. Als Göttin, Heldin, Mutter, Verführerin oder Aktmodell wurde sie tausendfach skizziert, gemalt und in Stein gehauen. Während sie ursprünglich den Weg als Göttin in die Kunst nimmt – wo sie ein paar tausend Jahre später als Nebenfigur Gottes endet – wird sie als Heldin zur barbusigen Allegorie über den Schlachtfeldern. Als Mutter spielt sie vor allem in zahlreichen Familienporträts eine wesentliche Rolle.
Die Folgen der «Begehrlichkeit des Weibes» kann in den unzähligen Aktdarstellungen und erotischen Abbildungen u. a. in der neuen Ausstellung «EROS in der Kunst der Moderne» in aller Deutlichkeit nachvollzogen werden: Ob Bonnard oder Klimt, Schiele, Rodin, Picasso oder Man Ray, sie alle haben den nackten weiblichen Körper geliebt, geformt und dem Publikum in den verschiedensten Medien präsentiert, mit Vorliebe in der passiven Rolle der Muse oder des Modells. Die Werke hingen fortan in Galerien und Ausstellungsräumen, wurden gelobt und verehrt und festigten ein Bild der Frau, das die Frauen zum Objekt der männlichen Inspiration und Begierde stilisierte. Ganz selten erscheinen die Abgebildeten als Herrinnen ihrer eigenen Situation, selbst dann nicht, wenn sie als Handelnde auftreten. Noch seltener treten sie als Künstlerinnen auf – die Akademien und insbesondere die Aktmalerei blieben ihnen bis tief ins 20. Jh. hinein verschlossen. Die feministische Kunstbetrachtung hat sich eingehend mit diesem Phänomen des «männlichen Blickes» auf den weiblichen Körper auseinandergesetzt. Aber was heisst eigentlich «männlicher» Blick?
Ausschlaggebend ist in diesem Zusammenhang die Erfindung der Zentralperspektive im frühen 15. Jh. Der Akt des Sehens erlangte dadurch neuartige Bedeutung, nach der das Subjekt die Welt durch seine Augen betrachtet und das, was es sieht – das «Gegenüber», den «Wilden», oder eben auch «die Frau» – zum Objekt der eigenen Betrachtungsmacht erklärt. Der eine sieht, der andere wird gesehen – diese Sichtweise hat nicht nur schwerwiegende Auswirkungen auf die Geschlechterwahrnehmung nach sich gezogen, in dem Männlichkeit mit Sehen und Weiblichkeit mit Gesehen-Werden gleichgesetzt wird, sondern festigte gleichzeitig die Zweiteilung von männlicher Geistigkeit und weiblicher Leiblichkeit und verlagerte sie ins Sehen. Diese Tendenz wurde später durch die eindimensionale Sehweise von Fotoapparat und Filmkamera ein weiteres Mal verstärkt und zog eine regelrechte Automatisierung der Sehgewohnheiten nach sich. Der Körper wird mit dem Blick beschrieben, kulturell codiert und am Ende wird nur noch das reflektiert, was man schon immer sehen wollte. Der Rest wird nonchalant übersehen. So konnten sich paradoxe Zuschreibungen verfestigen: die Intellektualität, Kraft, Führungsfähigkeit und das aktive Sehen dem Mann, Leiblichkeit, Sinnlichkeit, die Pflicht zur Schönheit und das passive Gesehen-Werden der Frau zuordnen. Damit wird die Frau bereits als Gesehene zum Bild, in Vorurteilen eingefroren.
Diese Sehweise veränderte sich erst zaghaft, als verschiedenste Künstlerinnen in der Folge der 68er Jahre begannen, ihren weiblichen Körper, ihre weibliche Sexualität, zum Thema ihrer Kunst zu machen. Damals wurde dies als Protestaktion, als radikaler Ich-Schrei der Frauen gegen die Männer interpretiert. Dabei setzte der «weibliche Blick» ein «weibliches Ich» und damit verbunden eine Identifikation mit dem eigenen Geschlecht voraus. Damit stand die weibliche Herangehensweise auch von vornherein in starkem Kontrast zur männlichen, die ihre Geschlechtlichkeit lange Zeit als Projektion auf das Weibliche zum Ausdruck brachte.
Der «weibliche Blick», der «weibliche Zugang» hat das Feld der künstlerischen Möglichkeiten enorm erweitert, wobei noch immer viele Künstlerinnen ihre Sinnlichkeit, ihre erotischen Gefühle primär über den nackten weiblichen Körper zum Ausdruck bringen. Neue Materialien fanden – als Gegentendenz zu den traditionellen Möglichkeiten – Verwendung, wie etwa weibliche Schamhaare in den textilen Arbeiten von Verena Brunner oder vulkanisierter Naturlatex wie in «Fillette» (1968/1999) von Louise Bourgeois. Auch die Themen sind vielfältiger geworden. Neben Identität und Ausgrenzung spielen sexuelle Gewalt, weibliches Begehren, Schmerz sowie eigene Schönheits- und Lebensentwürfe eine Rolle. Einige Künstlerinnen erklärten ihren eigenen Körper sogar zum Bildinhalt wie etwa Orlan, Hannah Wilke oder Nancy Fried. Die Zeichnung als ein Medium, in dem sich Nähe und sinnliche Befindlichkeit besonders gut ausdrücken lässt, erlebte ein Revival. So setzte u.a. Marlene Dumas mit ihren verschwommenen Aquarellen einen bewussten und fast hautähnlichen Gegenpol zum «voyeuristischen» Medien-Bild. Und im Bereich der bewegten Bilder war Pipilotti Rist eine der Ersten, die das Bilder produzierende Auge in ihren Videos entlarvt und uns über das vorgefasste Sehen hinaus den Weg zum lustvollen Schauen ebnet.
* Janine Schmutz ist Kunstvermittlerin der Fondation Beyeler
EROS – in der Kunst der Moderne 08.10.2006 – 18.02.2007 | Fondation Beyeler
Rebecca Horn in der Ausstellung „EROS in der Kunst der Moderne“
Von Philippe Büttner*
Wer die Ausstellung «EROS in der Kunst der Moderne» besucht, fühlt sich versucht, folgendes Fazit zu ziehen: Künstler stellen, wenn sie Erotisches schaffen wollen, mit Vorliebe Akte dar – also nackte, in der Regel weibliche Körper. Künstlerinnen hingegen schaffen es oft auch ohne die Darstellung von Körpern, Erotisches zu evozieren und ihm Form zu geben. An Künstlern seien hier stellvertretend Edouard Manet, Pablo Picasso, Ernst Ludwig Kirchner, aber auch Tom Wesselmann oder Francis Bacon genannt. Und was die Künstlerinnen anbelangt, so sei auf Grössen wie Meret Oppenheim, Louise Bourgeois, Rebecca Horn und Pipilotti Rist verwiesen. Sie alle haben gezeigt, dass es der Darstellung von nackten menschlichen Körpern nicht bedarf, um Erotisches zu zelebrieren.
Wenn man genauer hinsieht, wird natürlich sofort klar, dass unsere Verallgemeinerung betreffend Künstler und Künstlerinnen nur begrenzt gelten kann. Zum einen gibt es unter den Künstlern der Moderne bedeutende Erotiker, die zum Erotisieren den nackten Körper, den Akt, durchaus nicht brauchten. Man denke nur an den ironischen Erotiker Marcel Duchamp. Und umgekehrt gibt es natürlich auch grosse Künstlerinnen, die mit Verve das Erotische noch heute am täglich neuen Motiv des Aktes weiter thematisieren – etwa Marlene Dumas.
Sind diese Einschränkungen aber erst einmal gemacht, so leistet die oben genannte Formel dennoch ganz gute Dienste: Erotische Kunst von Frauen – um uns im Folgenden auf sie zu beschränken – ist demnach oft völlig unabhängig von der Darstellung des menschlichen Körpers. Und wie die Ausstellung zeigt, entwickelt sie dabei enorm viel physische, somatische, haptische, sinnliche, elektrisierende Präsenz. Bleibt die Frage, ob sie es tut, obwohl sie auf den Körper verzichten kann – oder gerade deswegen?
Machen wir die Probe aufs Exempel anhand zweier raumbezogener Werke von Rebecca Horn, die in der Ausstellung vertreten sind. Das erste heisst «Kuss des Rhinozeros» und stammt aus dem Jahr 1989. Es handelt sich dabei um eine monumentale Installation, die für sich einen ganzen Raum zu füllen und zu beleben vermag. Wir sehen eine Konstruktion aus Metallstangen, die unten an eine Mechanik angeschlossen sind und oben in je einem Nashorn-Horn enden. Die Metallstangen sind so gebogen, dass sie, wenn die Mechanik sie langsam in die entsprechende Position gebracht hat, zusammen einen riesigen Kreis bilden. Wenn dies der Fall ist, treffen oben auch die beiden Hörner im «Kuss» aufeinander. Aber nicht nur das. Denn zusätzlich sieht man dann wie sich ein kleiner Stab, der sich unter dem einen Horn befindet, bei der Begegnung mit der andere Seite in eine dort dafür vorgesehene Öffnung versenkt. Und wenn diese Situation der Kopulation des Apparates eintritt, bilden sich oberhalb der beiden Hörner drei Mal Funken. Ein kleines Gewitter der Liebe entlädt sich hier also, bis die beiden Hörner wieder auseinander gehen.
Das Besondere an diesem Werk ist also, dass es nicht auf die obsessive Wiederholung seines mechanischen Ablaufs beschränkt bleibt, sondern darüber hinaus immer wieder von Neuem die Geschichte einer erotischen Begegnung erzählt. Das Maschinelle verweist also nicht auf sich selbst. Aber es meint auch nicht – und das ist entscheidend – einfach einen beliebigen Schnappschuss aus dem Buch der Liebe. Vielmehr gelingt es der Künstlerin, am Schicksal dieser Maschine dauerhaft etwas zu inszenieren, was auf spielerische und berührende Weise auf etwas Allgemeines von Eros zielt. Etwas, das also auch uns meint. Genauso wie das Nashorn. Oder irgendein anderes Wesen. Mit der Pointe, dass die beiden liebenden Elemente nicht a priori zwei sind, sondern eigentlich zwei Teile des selben grossen Ganzen, dessen Sinn darin liegt, dass sie sich finden.
Was nun aber den Verzicht auf die Darstellung des menschlichen Körpers angeht, so ermöglicht es gerade dieser, die erwähnte Allgemeingültigkeit überhaupt zu erreichen. Denn auch wenn der Apparat in seinem schwankenden Gang selber vom Zufälligen berührt und eines Tages nicht mehr funktionieren wird, so ist er hier doch beständiger, als Körper es sein könnten. So vermag er über das Einzelschicksal hinaus das zugrunde liegende Gesetz des Eros zu offenbaren. Sobald hingegen ein einzelner Mensch mit seinem vergänglichen Körper ins Spiel käme, würde sich die Situation ändern.
Genau dies thematisiert u.a. die zweite monumentale Arbeit von Rebecca Horn in der Ausstellung: Sie heisst «Bett der Liebhaber» und stammt aus dem Jahr 1990. Wir sehen ein grosses Metallbett. Es ist leer, nicht einmal eine Matratze liegt darauf. Dafür sind an verschiedenen Orten auf dem Bettgestell wunderschöne blaue Schmetterlinge zu sehen, die auf einmal anfangen, ihre Flügel zu bewegen. Die Wirkung ist verblüffend: Das alte Metallbett, in etwas abgetakeltem Beige gestrichen – und dann der schimmernde Zauber der gaukelnden Flügel. Wofür stehen sie? Während die Absenz des Körpers, das Fehlen sogar der Matratze für ein lange verwaistes Bett stehen mag, verweisen die Schmetterlinge auf die traumartige Präsenz des Zaubers sogar noch im Mangel, in der Leere. Präziser stehen die Schmetterlinge hier für die erotische Liebe. «Schmetterlinge im Bauch haben» heisst verliebt sein. Wessen Liebe ist hier dargestellt?
Ein zweites Element dieser Arbeit bringt dazu eine Erklärung – und genau hier kommt bezeichnenderweise auch bei Rebecca Horn der menschliche Körper ins Spiel: Es handelt sich um eine kurze Sequenz aus Rebecca Horns 1998 entstandenem Film «Buster’s Bedroom», die neben dem Bett an der Wand zu sehen ist. Es geht dabei um eine alte Frau, Serafina, die sich in einem Irrenhaus befindet und von Schmetterlingen umflogen wird, die sie an ihre verstorbenen Liebhaber erinnern. Am Ende der Sequenz spiesst der behandelnde Arzt, dem das Drama der Erinnerung auf die Nerven zu gehen scheint, eines der Tiere kurzerhand mit seiner Nadel auf. Diese an konkrete Darsteller (Valentina Cortese und Donald Sutherland) gebundene Sequenz wird in der eigentlichen Installation mit dem Bett also in einen anderen zeitlichen Moment überführt. Alles Zufällige, Vergängliche ist dort verschwunden. Die alte Frau ist weg und die Maschinerie zelebriert in einem Ballett der Erinnerung allein die Seelen der verstorbenen Liebhaber, die als Schmetterlinge das leere Bett umgaukeln.
Ohne Darstellung des menschlichen Körpers ist der Eros bei Rebecca Horn also stärker der grossen Geste jenseits des Alltäglichen zugewandt und vermag in der erinnernden Obsession der Mechanik seinen niemals endenden Zauber besonders eindrucksvoll ins Bild zu rücken. Zielen auch andere Werke von Künstlerinnen in der Ausstellung in dieser Weise besonders stark auf das Grundlegende an Eros? Ein Besuch in der Fondation Beyeler mag darüber Klarheit verschaffen.
* Philippe Büttner ist Kurator der Fondation Beyeler
EROS – in der Kunst der Moderne 08.10.2006 – 18.02.2007 | Fondation Beyeler
Der zweite Teil des «EROS»-Projekts in der Fondation Beyeler zeigt «EROS in der Kunst der Moderne»
Von Ulf Küster*
Nach der erfolgreichen ersten Ausstellung zum Thema «EROS», die sich den beiden Giganten Rodin und Picasso und ihren erotischen Obsessionen zu nähern versuchte, folgt nun der umfassende Überblick über «EROS in der Kunst der Moderne». Das bedeutet nicht nur mehr Künstler, eine grössere Varietät der Darstellungen und mehr Möglichkeiten der Herangehensweise an das schwierige Thema Eros. Dieses Mal sind auch mehr und unterschiedliche Techniken zu sehen: Neben Zeichnungen, Gemälden und Plastiken werden auch Videos und Rauminstallationen ausgestellt. Gleich geblieben ist unsere Absicht, unserem Publikum nicht nur aufregende Kunst in unterschiedlicher erotischer Deutlichkeit zu präsentieren, sondern auch zu versuchen, die vielleicht wichtigsten Fragen, die unser Projekt aufwirft, zu beantworten: Warum ist das Thema Eros für Künstler so faszinierend, warum ist gerade dieses Thema einer der Hauptantriebe für die Kunst schlechthin? Anders gefragt: Warum versuchen Künstler ständig, etwas darzustellen, was doch eigentlich gar nicht möglich ist, etwas, das jeder Mensch anders erlebt?
Anhand dreier Beispiele seien hier verschiedene Sichtweisen, verschiedene Verarbeitungsweisen des Themas vorgestellt, wobei zeitlich ein Bogen geschlagen wird vom Anfang des 20. Jahrhunderts über ein Werk des Surrealismus aus den 40er Jahren bis zu einer Arbeit zeitgenössischer Kunst. Natürlich kann nur der Besuch der Ausstellung selbst und die Auseinandersetzung mit den dort präsentierten Werken einen annähernd ausreichenden Überblick über die vielen Möglichkeiten von Eros inspirierter Kunst geben.
Eines der frühen Meisterwerke in der Ausstellung ist Pierre Bonnards Gemälde eines Paares «L’Homme et la Femme» aus dem Jahr 1900, ausgeliehen vom Musée d’Orsay in Paris. Bonnard, oft unterschätzt und erst kürzlich wieder durch eine Retrospektive im Musée l’Art moderne de la Ville de Paris gefeiert, war nicht nur ein grossartiger Kolorist, sondern auch ein Meister der Darstellung von psychologischen Nuancen. Zu sehen ist eine eigentlich unspektakuläre Situation: Ein Mann und eine Frau, sie ist nackt und hockt auf einem Bett, vor sich hin starrend, er steht neben ihr und ist fast ganz entkleidet; offenbar streift er gerade noch sein Hemd ab. Sein Gesichtsausdruck ist indifferent, aber eher ernst als fröhlich. Beide sind durch eine Art Paravent voneinander getrennt, und doch sind sie auf dem Bild zusammen als Paar zu erkennen. Soll dies eine Bordellszene sein? Ist das der Blick in ein «normales» Schlafzimmer? Das ist nicht entscheidend; aber es drängt sich der Eindruck der Fremdheit auf, die zwischen dem Mann und der Frau herrscht. Sollte es Bonnard hier gelungen sein, in einem Bild das Gefühl der plötzlichen Scham vor des anderen Nacktheit zu zeigen, das so präsent sein kann, wenn man das erste Mal mit einem geliebten und begehrten Partner intim wird? Und ist nicht gerade diese Situation, diese Mischung aus Erwartung – vielleicht sollte man sogar sagen: existenzieller Sorge – nicht zu Eros gehörig?
Ganz anders Max Ernsts wunderbares Gemälde «Napoleon in the Wilderness», das während des zweiten Weltkrieges entstanden ist und sicherlich auch als politisches Statement gegen Diktatur, gegen Hitler, gelesen werden kann. Ernst hat hier einerseits in seinem «Dschungelstil» die aus ineinander verlaufenden Farbschlieren komponierten, algenartig grünen Figuren gemalt, aus deren einer sich offenbar eine schöne nackte Frau schält, die eine Art pflanzliches Saxofon zu spielen scheint. Andererseits sieht man eine Zone konventioneller Malerei: den blauen Himmel, der die Illusion von Weite und Raum erzeugt. Die Figur links erinnert in ihrer Haltung an populäre Darstellungen von Napoleon. Sie zeigt gewissermassen den von Moos und Algen schon ganz überwachsenen Kaiser, der sich offenbar verirrt hat. In «the Wilderness» hat nämlich ein Napoleon nichts zu suchen. Sollte er von der schönen Frau als einer Art Hexe Lorelei in den Dschungel gelockt worden sein, aus dem er nie mehr wieder herausfinden wird? Oder ist die Schöne Sinnbild des alle Diktatoren überlebenden und ad absurdum führenden weiblich-menschlichen Prinzips?
Das dritte Werk, das hier stellvertretend für die ganze «EROS»-Ausstellung vorgestellt werden soll, ist die Arbeit eines Zeitgenossen, Jeff Koons’ «Woman in Tub». Koons, bekannt durch mancherlei Skandale, die er geschickt für sich zu nutzen wusste, ist ein Virtuose darin, sein Publikum auf falsche Fährten zu locken. Die Verwendung von Allerweltsmaterialien, in diesem Falle von Porzellan, das freie Jonglieren mit Kitsch, mit Allerweltsbildern und -gefühlen machen ihn zu einem der bedeutendsten Künstler der Post-Popart. Was ist zu sehen? Eine nackte Frau, die im Schneidersitz in einer Badewanne hockt. Mit beiden Händen hält sie ihre fülligen Brüste, und zwar so, dass ihre Brustwarzen gerade zwischen ihren Fingern erscheinen. Unterhalb des Bauchnabels scheint Wasser zu brodeln, wie in einem Jacuzzi-Bad. Ihr Gesicht und ihr Kopf sind oberhalb des geöffneten, rot geschminkten Mundes abgeschnitten. Sie scheint keine Personalität zu haben. Ist sie hier also zu einem Objekt reduziert? Oder geht es grundsätzlich um die Darstellung von Emotion – ist sie erschreckt oder sexuell erregt von dem, was da unter ihr brodelt? Was das ist, ist freilich nicht genau zu erkennen. Jedem Betrachter bleibt eine eigene Interpretation überlassen, wie jeder Besucher unseres Überblicks über «EROS in der Kunst der Moderne» seine eigenen Schlüsse ziehen kann und soll. Eros bewegt uns alle; Eros regt uns alle an, und das Phänomen Eros bleibt das Agens der Welt und damit auch der Kunst.
* Ulf Küster ist Kurator der Fondation Beyeler
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