Archiv der Kategorie: HEK – Haus der elektronischen Künste

Meyer-Brandis: Wolkenkerne, Mondgänse, Wanderbäume

Auf einer steinigen Hochebene irgendwo in den italienischen Abruzzen fährt eine Frau in gelben Gummistiefeln und silbernem Nasa-Trainingsoverall auf einem alten Fahrrad über den holprigen Grund. Ein merkwürdiger weisser Holzrahmen in Pfeilform ist um ihr Fahrrad montiert. Gefolgt wird das skurrile Gefährt von elf blütenweissen Gänsen, die sich schnatternd bemühen, den Anschluss an ihre Wegbereiterin nicht zu verlieren. Agnes Meyer-Brandis ist gerade dabei ihren „Mond-Gänsen“ den Pfeilflug beizubringen.

Agnes Meyer-Brandis erklärt ihr Projekt Teacup Tools
Agnes Meyer-Brandis erklärt ihr Projekt Teacup Tools

Sie hat unter der Erde angefangen, um sich bis weit in den Himmel vorzuarbeiten. Der Kosmos der deutschen Mineralogin, Bildhauerin und Fotografin Agnes Meyer-Brandis entspinnt sich zwischen Kunst, Poesie und Wissenschaft. Sie will vor allem eines: Möglichkeitswelten schaffen. Dafür hat Sie 2003 ein eigenes Institut gegründet, das „Forschungsfloss – Institut für Kunst und subjektive Wissenschaft“, dessen Organigramm in unterirdische, irdische und überirdische Themengebiete eingeteilt ist. Damit versucht sie, die Grenzen zwischen Fiktionen und Fakten auszuloten. Ihre Kunst entwickelt sie mithilfe „subjektiver wissenschaftlicher Methoden“, die sich stets der künstlerischen Freiheit unterordnen müssen, eine Freiheit, die ihr ganz besonders wichtig ist – wie sie an der Medienkonferenz betont.

Das HeK–Haus der elektronischen Künste Basel widmet der deutschen Künstlerin die erste grosse Einzelausstellung in der Schweiz und hat dafür keine Mühen gescheut. Dem Kuratorenteam, bestehend aus der Hek-Direktorin Sabine Himmelsbach und dem Projektleiter für Pop und Neue Medien beim Migros Kulturprozent, Raphael Rogenmoser, ist eine spannende und ansprechende Schau gelungen. Sie widmet sich einzelnen Forschungseinheiten von Meyer-Brandis – deren Klammer das Thema Erdanziehung bildet – und beginnt mit dem Thema „Wolkenkerne“. Damit meint die Künstlerin eigentlich Aerosole – also Tropfen, deren Schwerelosigkeit sie genauer untersuchen will.

Agnes Meyer-Brandis in der Schwerelosigkeit
Agnes Meyer-Brandis in der Schwerelosigkeit

Dafür hat sie auf einem Parabelflug, zu dem die Künstlerin von der deutschen Raumfahrtagentur eingeladen wurde, ihre ganz eigenen Testreihen für das Verhalten von Tropfen in der Schwerelosigkeit entwickelt. In ihrer Serie „Impakt – Studien zu Ursache und Wirkung“ forscht die Künstlerin unter anderem zu den Auswirkungen der Schwerkraft auf den menschlichen Körper. Ihre Untersuchungen dokumentiert Meyer-Brandis auf – von ihr so getauften – „Subsurdum“, das sind Kontext-Wände, die in der Ausstellung zu sehen sind. Auf einer Art wissenschaftlichem Mood-Board, trägt die Künstlerin detailliert und humorvoll zusammen, was sich aus ihren Datensammlungen und Experimenten ergeben hat.

Agnes Meyer-Brandis, Filmstill aus Moon Goose Colony
Agnes Meyer-Brandis, Filmstill aus Moon Goose Colony

Mit ihrem „Moon Goose Experiment“ lässt sich Meyer-Brandis seit 2008 auf ein besonders poetisches Projekt ein. Inspiriert von der 1603 entstandenen Erzählung „The man in the moone“ von Francis Godwin, in deren Verlauf ein von Gänsen gezogenes Gefährt die Schwerelosigkeit überwindet und zum Mond schwebt, hat die Künstlerin ihre eigene elfköpfige Gänse-Crew aufgezogen. Nach der Methode von Konrad Lorenz hat sie die Gänse in den ersten fünf bis sechs Wochen nach dem Schlüpfen verhaltensbiologisch auf sich geprägt. Ein ganzes Jahr hat die Künstlerin anschliessend mit ihren Gänsen verbracht, in der Absicht, diese mit einem Astronauten-Training auf ihre Reise zum Mond vorzubereiten. Dass Sie sich diesem Projekt mit Leib und Seele verschrieben hat, zeigt die aufwendige und liebevolle Dokumentation, die in der Ausstellung zu sehen ist. Sie umfasst unter anderem eine Filmdokumentation, das Modell einer Mondlandschaft und einen eigenen „Control Room“ in dem man live mit den Gänsen in Italien kommunizieren kann.

Auf dem von gleissendem, kaltem Sonnenlicht beschienenen grauen, staubigen Sandboden findet Meyer-Brandis eine einzelne, weisse Gänse-Feder. Um deren kräftigen Schaft spannen sich Innen- und Aussenfahne, die im zarten, flaumigen Daunenteil enden. Diese Feder scheint aus einer unwirklichen Mondlandschaft zu stammen und wird in der Ausstellung zu einem Echtheitszertifikat des Experiments „Moon Goose“ – samt dokumentarischer Fotografie ihres Fundortes. Auf so wunderbare, fantastische und feinfühlige Weise wird hier subjektive Wissenschaft in Kunst verwandelt.

 

Die ungerahmte Welt

Die ungerahmte Welt.
Virtuelle Realität als Medium für das 21. Jahrhundert
19.01.2017 – 05.03.2017
HeK – Haus der elektronischen Künste

Ohne geht es nicht. Wir müssen sie anziehen, diese komischen Brillen. Von aussen betrachtet sorgt dieses Bild im besten Fall für Heiterkeit. Die Welt jedoch, die sich im Innern auftut, könnte faszinierender nicht sein. Die Brille, ein sogenanntes Head-Mounted-Display (HMD), nutzt die Trägheit unseres Auges, das auf die Netzhaut projizierte Einzelbilder zu einem farbigen Gesamteindruck zusammensetzt. Damit sind wir drin in der unendlichen Welt der virtuellen Realität.

Das HeK (Haus der elektronischen Künste Basel) zeigt mit Die ungerahmte Welt die erste umfassende Ausstellung zum Thema virtuelle Realität (VR), die sich mit dem Einfluss dieser massentauglich gewordenen Technologie auf unsere Gesellschaft auseinandersetzt.  Zusammen mit der freien Kuratorin Tina Sauerländer hat Direktorin Sabine Himmelsbach neun Künstler und Künstlerinnen eingeladen, sich kritisch mit den Anwendungsmöglichkeiten von VR auseinanderzusetzen und deren Möglichkeiten und Grenzen zu hinterfragen.

In der virtuellen Realität erleben wir eine Welt ohne die Begrenzung eines Bildschirms, einer Leinwand oder eines Raumes. Der Träger einer HMD-Brille verwandelt sich vom passiven Zuschauer zum aktiven Mittelpunkt einer dreidimensionalen Welt, die er mittels Controller oder Kopfbewegung steuern kann. Oder auch nicht, wie die Arbeit 2199 (2017) ironisch aufzeigt (2199 ist eine Zusammenarbeit von Fragment.In, der Künstlerin Maria Guta und dem Musicproduzenten Flexfab – siehe grosses Bild oben).

Auf motorisierten Drehstühlen sitzend, erkunden drei Nutzer ihre Umgebung, verändern virtuell Töne und Klänge und können sich untereinander synchronisieren und interagieren. Langsam jedoch verlieren die Teilnehmer die Kontrolle über ihre Interaktionen und müssen erkennen, wie ihre virtuelle Realität durch fremde Eingriffe manipuliert wird.

Der Medienkünstler Marc Lee (*1969) lebt und arbeitet in Zürich
Der Medienkünstler Marc Lee (*1969) lebt und arbeitet in Zürich

Mit der Arbeit 10.000 moving cities – same but different (2016) führt uns der Schweizer Künstler Marc Lee jene Bildwelten vor Augen, die auf sozialen Netzwerken wie YouTube, Flickr oder Twitter weltweit öffentlich gepostet werden. In Echtzeit partizipieren wir an den Themen der sozialen Welt, die Lee zu einer virtuellen Stadt aufgetürmt hat. Dabei erfahren wir wie Urbanisierung und Globalisierung unsere Welt stets verändert und sich unsere Art zu leben zunehmend ähnelt.  Immer mehr Orte dieser Welt  verlieren ihre eigene Identität und  werden zu „Nicht-Orten“. Immergleiche Hotelzimmer, Flughäfen  oder globale Kaffeeketten.

Kunst wird in der VR nicht mehr nur betrachtet, sondern erlebbar gemacht. Als Metadisziplin vereint sie Malerei, Skulptur oder Performance im digitalen Raum und ermöglicht ein völlig neues Eintauchen in Bildwelten – ohne die elitäre Schranke von erhabenem Kunstwerk und andächtigem Betrachter aufrechtzuerhalten. Während jedoch die Berührungsängste sinken, steigt dafür die Herausforderung im Umgang mit dem ästhetischen Potenzial und den schier unendlichen Möglichkeiten von VR. Die Ausstellung bietet einen umfassenden Einblick in diese schöne neue Welt und lässt uns erahnen, welche Errungenschaften und Gefahren diese Technologie für unsere Zukunft bereithält.

 

 

 

 

 

 

 

 

Addie Wagenknecht – Liminal Laws

Addie Wagenknecht
Liminal Laws
bis 13.11.2016
HeK – Haus der elektronischen Künste Basel

Die Amerikanerin Addie Wagenknecht verstrickt sich nicht so leicht im Internet wie unsereiner. Als technologisch interessierte Hackerin und Aktivistin arbeitet die in Innsbruck lebende Künstlerin und Feministin viel mit „open source“ Daten, jenen Daten also, die im Netz frei zugänglich sind. Addie Wagenknecht – Liminal Laws weiterlesen

My Boyfriend Came Back From The War. Online since 1996

Bis 20. März 2016
HeK Haus der elektronischen Künste

Von Sibylle Meier, Basel
Das HeK widmet seine erste Ausstellung im neuen Jahr der russischen Künstlerin Olia Lialina. Die Professorin für neue Medien an der Merz Akademie in Stuttgart, hat vor 20 Jahren als eine der Ersten die gestalterischen Möglichkeiten eines Webbrowsers erkundet. Während damalige Programme den Bildschirm noch Zeile für Zeile bespielten, teilte Lialina die Oberfläche in Frames ein, die sie individuell bespielte.
Die interaktive Erzählung über zwei Menschen, die versuchen, miteinander über einen vergangenen Krieg zu reden, gilt heute als Pionierarbeit der net.art.

Olia Lialina, mbcbftw-netscape, 1996, Screenshot_505. Für Web-Application bitte aufs Bild klicken
Olia Lialina, mbcbftw-netscape, 1996, Screenshot_505. Für Web-Application bitte aufs Bild klicken

Das Original dieses Werks mit dem Titel My Boyfriend Came Back From The War (MBCBFTW) steht im Zentrum der Ausstellung. Um das zentrale Werk sind  Arbeiten von weiteren Künstlern gruppiert, die sich inhaltlich oder formal auf darauf beziehen. Olia Lialina selbst hat diese Arbeiten in ihrem privaten Archiv unter dem Titel „The Last Real Net Art Museum“ zusammengetragen. Aus den mittlerweile 27 Arbeiten werden 13 im HeK ausgestellt.

Inhaltlich beschäftigt sich die Arbeit mit der Kommunikation zwischen zwei Menschen über ein schwieriges Thema. Lialina hat ihr Werk so aufgebaut, dass der Austausch ganz unterschiedliche Richtungen einschlägt, je nachdem welcher Link zuerst angeklickt wird. Die Langsamkeit, mit der sich die Bilder vor 20 Jahren aufgebaut haben, bildet eine wichtige Leerstelle zwischen den einzelnen Sprach- oder Bildfragmenten. Das Warten auf eine Antwort verbindet sich mit dem Warten auf das Bild.

Die Dokumentation der historischen Dimension der ausgestellten Geräte und Technologien bildet einen weiteren wichtigen Schwerpunkt der Ausstellung. Das Gerät, auf dem „MBCBFTW“ läuft, und die dazugehörige Software stammen aus den 90er-Jahren. Das Gerät wurde von einem Spezialisten für Medienkunst der Universität Freiburg künstlich verlangsamt. In einer sogenannten Emulation hat er den technologischen Entwicklungsstand von 1996 rekonstruiert. Das Durchklicken durch Lialina’s Arbeit dauerte damals etwa 15 Minuten. Auf einem heutigen Gerät kann man dies in 30 Sekunden erledigen. (Wir erinnern uns dunkel an die Einwahlgeräusche einer aufzubauenden Modemverbindung). Die ganze Arbeit hat die geringe Grösse von heute unvorstellbaren 72 KB.

Guthrie Lonergan, Burgers (My Burger came back fom the War), 2012 – für Web-Application bitte auf das Bild klicken
Guthrie Lonergan, Burgers (My Burger came back fom the War), 2012 – für Web-Application bitte auf das Bild klicken

Die Ausstellung bietet einen breiten Überblick über die Entwicklung der Netzkunst und der Informatikgeschichte in den letzten zwanzig Jahren. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung ist überraschend, und erst die Konfrontation mit Software, Interfaces und Gerätschaften machen deutlich wie gross der Sprung ist, von den einstigen Maschinenparks auf unseren Schreibtischen zu den heutigen Geräten in unseren Hosentaschen.