Archiv der Kategorie: Museum Tinguely, Basel

Meta – Jean Tinguelys maschinelle Poetik

Kunstmaschinen – Maschinenkunst – Das Museum wird zur Produktionshalle
05.03.2008 – 29.06.2008 | Museum Tinguely Basel

Von Hans-Christian von Herrmann*

Schon die Poetik des Aristoteles sah die Aufgabe der Kunst darin, die Aufmerksamkeit vom «Was» auf das «Wie» zu lenken. Was in der Tragödie geschah, wussten alle Athener, da der Stoff dem Mythos entnommen war. Poetisch einzig entscheidend war, wie der Dichter die vorgefundenen Handlungselemente angeordnet hatte. Als Jean Tinguely sich zu Beginn der fünfziger Jahre den abstrakten Gemälden eines Malewitsch oder Kandinsky zuwandte und deren Formen als Bausteine für seine automatischen Reliefs aufgriff, war seine Vorgehensweise eine ganz vergleichbare. Die kanonisch gewordene Kunst der Moderne wurde hier zum Ansatzpunkt einer künstlerischen Intervention, die dem Betrachter statt fertiger Bilder einen endlosen Kompositionsprozess präsentierte. Ordnung als etwas Bewegliches, Veränderliches – das ist das Thema der automatischen Reliefs, die Pontus Hultén anlässlich von Tinguelys erster Ausstellung 1954 in Paris als «meta-mechanisch» bezeichnete.
Meta – mit diesem in den Titeln seiner frühen Arbeiten häufig anzutreffenden Präfix (Méta-Malevitch, Méta-Kandinsky, Métamorphe) ist Tinguelys Maschinenkunst sehr genau beschrieben, fordert sie doch auf, einen Schritt gegenüber dem, was sie zeigt, zurückzutreten und darauf zu achten, wie sie das, was sie aufgreift, zusammenfügt.
Zuerst sind es farbige Kreise und Vielecke, die, motorisiert, eine unüberschaubare Zahl von Konstellationen bilden. Später sind es Schrott und nutzlos gewordene Alltagsgegenstände, die sich zu grotesken Maschinen verketten. Thema wird nun das Maschinelle selbst, das sich hier ostentativ aller Benutzerfreundlichkeit entzieht, um stattdessen einer poetischen Praxis Raum zu geben, in der Funktionalität und Dysfunktionalität keinen Gegensatz mehr bilden. Ihr erklärtes Ziel ist eine Befreiung der Maschinen von der Arbeit zum Spiel. «For me», so Tinguely, «the machine is above all an instrument that permits me to be poetic. If you respect the machine, if you enter into a game with the machine, then perhaps you can make a truly joyous machine – by joyous, I mean free.»
Als zum Spiel befreite Maschinen lassen sich auch die Zeichenautomaten begreifen, die Tinguely ab 1959 konstruierte und die als Méta-matics bekannt geworden sind. Ihr buntes Gekritzel parodiert ganz offensichtlich die tachistische oder informelle Kunst der Zeit. Am 1. Juli 1959 wurden sie, begleitet von einer Werbekampagne, die Teil des Ausstellungskonzepts war, in der Galerie Iris Clert in Paris präsentiert. «libérez-vous en créant vous-même vos œuvres d’art avec les machines à peindre ‚meta-matics’ de tinguely», war auf den vorab verteilten Flugblättern zu lesen. Bei der Eröffnung war auch Marcel Duchamp zugegen, der sich nicht scheute, sich auf das Spiel mit den Maschinen einzulassen. Sein Beitrag zur automatischen Bilderzeugung blieb dabei, gemäss der Gebrauchsanweisung, auf die Einstellung der Motorgeschwindigkeit und die Wahl des farbigen Zeichenstifts beschränkt.
Sechs Jahre später erschien in der Juni-Ausgabe des amerikanischen Playboy ein Artikel mit dem Titel «Portrait of the machine as a young artist». Der Verfasser John R. Pierce war damals Leiter der Communications Sciences Division an den Bell Laboratories in Murray Hill, New Jersey. Der Text ist ein deutlich ästhetisch akzentuierter Bericht über die amerikanische Forschung zur computergestützten Generierung von Texten, Tönen und Bildern. Zwei Abbildungen finden sich auf der ersten Seite: eine pointillistische Computergraphik aus den Bell Labs und eine mit einer Méta-matic erzeugte bunte Strichzeichnung. Das Blatt hing damals, wie Pierce anmerkt, in seinem Büro in Murray Hill, versehen mit der handschriftlichen Widmung: «Pour John Pierce, amicalement, Jean Tinguely, Avril 1962.»
Auch wenn Tinguelys Méta-matics, technisch gesehen, nichts mit den Computern der Bell Laboratories zu tun haben, hatte Pierce gute Gründe, beide Bilder nebeneinander zu rücken. Zum einen besass die Forschungsarbeit in seiner Abteilung in jenen Jahren tatsächlich deutlich spielerische Züge, da man sich auf diese Weise am ehesten technische Innovationen versprach. Zum anderen lassen sich die Méta-matics als Vorboten einer neuen Synergie von Bild und Maschine begreifen, wie sie in den sechziger Jahren durch die Verschaltung von Computern mit Kathodenstrahlröhren und automatischen Zeichentischen möglich werden sollte.
Die Computergraphik, die dem Artikel von Pierce beigefügt ist, war im Rahmen wahrnehmungspsychologischer Experimente und somit gänzlich ohne künstlerische Absicht entstanden. Dennoch hatte der verantwortliche Wissenschaftler Bela Julesz im April 1965 mit solchen Bildern eine Ausstellung in der New Yorker Howard Wise Gallery bestritten, gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Noll, der heute (wie in Deutschland die Mathematiker Frieder Nake und Georg Nees) als Pionier der künstlerischen Computergraphik gilt. Was Tinguely zuvor mit gänzlich mechanischen Mitteln unternommen hatte, betrieb der Elektroingenieur Noll nun mit Hilfe von Computertechnik: er liess die Bildformen der abstrakten Moderne aus maschinellen Prozessen hervorgehen. Was Tinguelys Méta-matics mit Nolls Computerprogrammen verbindet, ist ihr produktiver oder poetischer Gebrauch des Zufalls. Während jene durch das unkalkulierbare Zusammenwirken ihrer mechanischen Bauteile immer neue Strichkombinationen erzeugten, verwendeten diese arithmetischen Generatoren für Zufallszahlen. Insofern lässt sich sagen, dass die parodistisch-spielerische Sachlichkeit von Tinguelys Méta-matics in den Computergraphiken von Michael Noll noch einmal – und nunmehr mathematisch-algorithmisch – überboten wurde. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Tinguelys Zeichenmaschinen abstrakte Graphiken aus einer Mischung von wiederholendem Automatismus und unvorhersehbarer Variation hervorgehen liessen, womit sie – im Moment des beginnenden Informationszeitalters – den historisch-technischen Raum mechanischer Zwangsläufigkeit verliessen. Auf diese Weise war es ihnen möglich, sowohl unseren Umgang mit Technik als auch unseren Umgang mit Kunst zu irritieren.

* PD Dr. Hans-Christian von Herrmann ist Hochschuldozent für Kulturtheorien digitaler Medien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und zur Zeit Visiting Professor an der New York University

Hannah Höch – die Collage «Lebensbild»

Hannah Höch – Aller Anfang ist DADA
16.01.2008 – 04.05.2008 | Museum Tinguely Basel

Von Alma-Elisa Kittner*

Hannah Höch vor ihrem «Rarit», 1972
Hannah Höch vor ihrem «Rarit», 1972

Die letzte und grösste Fotocollage von Hannah Höch mit dem Titel Lebensbild war für die Künstlerin selbst eine Überraschung: «Ich hatte bei diesem Original-Foto-Bild an Landschaft, Stillleben, Weltanschauliches (…) gedacht (…), aber – nicht an eine Selbstbespiegelung», schildert sie in Briefnotizen an das Fotografenpaar Liselotte und Armin Orgel-Köhne. Und weiter heisst es in den Aufzeichnungen aus dem Archiv der Berlinischen Galerie: «Als Sie mir aber reiches Material schickten, (…) war ich entzückt und wusste – nun kann ich mir doch noch den Wunsch erfüllen, mit künstlerischem Massstab – an eine Original Fotomontage oder Collage heranzugehen (…)» Einmaliger Zufall und lang gehegter Plan, repräsentative Selbstdarstellung und Zusammenarbeit mit anderen: Die 1,30 mal 1,50 Meter grosse, fast monumentale Collage aus den Jahren 1972/73 vereint Gegensätzliches und nimmt im Werk der Künstlerin eine Ausnahmestellung ein.

Hannah Höch, Meine Haussprüche, 1922
Hannah Höch, Meine Haussprüche, 1922

Mit «Original-Foto-Bild» meint Höch, dass sie hier zum ersten Mal manuell abgezogene Schwarz-Weiss-Fotografien benutzt. Ihr Kooperationspartner, das Fotografenpaar Orgel-Köhne, liefert ihr auf Wunsch Abzüge, Reproduktionen, Vergrösserungen oder Ausschnitte ausgewählter Bilder. So lässt Höch Aufnahmen aus ihrem Privatarchiv abfotografieren, die ihre Freunde, Familie und sie selbst in unterschiedlichen Lebenssituationen zeigen – von der Kleinkindaufnahme über einen Schnappschuss mit Raoul Hausmann am See bis hin zu Porträts der letzten Lebensphase, in der sie das Lebensbild entwickelt. Diese Porträts entstanden anlässlich der umfangreichen Höch-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste 1971, die ihre Collagen aus den Jahren 1916–1971 zeigte – es sind im Lebensbild die grossformatigen Köpfe der weisshaarigen Dame, die sofort ins Auge springen. Zeitgleich fotografierten die Orgel-Köhnes die Collagen Hannah Höchs als Dokumentation, wie auch die Aufnahmen von Haus und Garten der Künstlerin am Rande Berlins in Heiligensee zunächst den gleichen Zweck verfolgten. Genau zwischen diesen beiden Polen der unterschiedlichen Bildquellen, dem Privaten des eigenen Fotoalbums und dem Öffentlichen der repräsentativen Selbstdarstellung, spannt Höch im Lebensbild den Bogen zu einer visuellen Autobiografie.

Hannah Höch, Dompteuse, um 1930/1964
Hannah Höch, Dompteuse, um 1930/1964

Mit dem Begriff der «Autobiografie» sollte man jedoch nicht in die «Authentizitätsfalle» tappen und meinen, hier würde man alles Intime und Wahre über die Künstlerin erfahren. Zwar verkündet einer der bekanntesten literarischen Autobiografen Jean-Jacques Rousseau in seinen Bekenntnissen, er würde sich «in seiner ganzen Naturwahrheit» vorführen und den Lesern und Leserinnen «sein Innerstes entschleiern», und gerade in der Entstehungszeit der Collage, Anfang der 70er-Jahre, spriesst allerorten die Geständnisliteratur mit dem Anspruch auf Authentizität. Doch es ist ein rhetorischer Kunstgriff und Teil einer poetischen Strategie, bei der die Erinnerung immer ein Produkt des Sammelns, Auswählens und Verdichtens ist: ähnlich einer Collage. Die autobiografische Geste, «das Ganze» zeigen zu wollen, wird bei Höchs Lebensbild daher zu einer verdichteten Darstellung und Verknüpfung ihres Lebens und Werks. Den retrospektiven Blick auf ausgewählte biografische Stationen überkreuzt sie mit einer Retrospektive ihres Collagen- und Montagenwerks. Fast im gesamten oberen linken Viertel im Lebensbild stellt Höch ihre Collagen und Montagen aus den 10er- bis 60er-Jahren als reproduzierte Zitate aus. Der Hintergrund, rhythmisch komponierte Farbstreifen aus ihrer Magazinsammlung, wird hier am stärksten sichtbar. Damit wird auch ein Aspekt der Auswahl klar, wie es die Künstlerin in einem unveröffentlichten Tonbandprotokoll der Orgel-Köhnes formuliert: «Hier wird nur Person Höch mit Collage (dargestellt).» Ihr malerisches Werk kommt nur mit dem Gemälde Die Braut (Pandora) vor, das jedoch in Collagetechnik gemalt wurde. Der Kopf der kindlichen Braut wendet sich einem Dreiklang verschiedener Weiblichkeitsformen zu: Die Montage Dompteuse mit ihrem männlichen Oberkörper kommentiert spielerisch das Bild des dümmlich dreinblickenden Deutschen Mädchens, das von dem Gesicht eines Stiefmütterchens flankiert wird.

Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73
Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73

Auch in den anderen zitierten Collagen, von denen zahlreiche in der Ausstellung zu sehen sind, fächert Höch ein Kaleidoskop von Weiblichkeitsvorstellungen auf, die mit den verschiedenen Rollen in Dialog treten, in denen sie sich selber zeigt: unter anderem als Tochter, Partnerin und Künstlerin. So montiert sie dem verdutzten Kleinkind einen Pinsel in die Hand, an dessen Spitzen ein Bund Augen hängt, Teile aus der Collage Strauss. Das Genie zeigt sich schon in frühester Kindheit, so die traditionelle Legende des männlichen Künstlers. Höch wendet sie ironisch, um sich zugleich als Collagistin und Malerin zu präsentieren, deren wichtigstes Werkzeug ihr Blick ist.
Das Sammeln als künstlerische Identität
Doch zu Hannah Höch gehört noch eine dritte Facette ihrer künstlerischen Identität: das Sammeln. Die Kunst ihrer Freunde sammelte sie – und rettete sie über die Zeit des Nationalsozialismus – doch taucht sie in der Darstellung der «Kleinen Galerie» nur als Verweis auf. Sie sammelte ebenso Pflanzen, die den Grundstock für ihre Gartenmontage bilden, die bis heute existiert und als Versatzstück des Organischen im Lebensbild aufscheint. Ein prominentes Sammlungsstück bilden riesige Kakteen, Höchs älteste Pflanzen, die fingerartig von unten ins Bild ragen und sowohl den Betrachterblick als auch Höchs Blick aus den Doppelaugen vergittern. Die «Stachligen» rahmen zugleich eine andere Form der Sammelstücke: hier das Glasei, das als ältestes Stück aus dem Jahr 1894 zu Höchs Sammlung abseitiger, scheinbar banaler Miniaturen gehört. Sie bewahrte sie in ihrem Raritätenkabinett, dessen Name bezeichnenderweise zum Rarit verkleinert wurde.
Die «Minis» werden im Lebensbild zu Stillleben vergrössert und erobern sich als Objektporträts den Raum. Die Stickerei – in der Fotografie Hannah Höch vor ihrem Rarit im Hintergrund zu sehen – thront majes­tätisch zwischen zwei Höch-Porträts und schaut auf den Glastanz herunter. Unten links blickt die Künstlerin selbst durch das Glasei. Fast scheint es, als würde sie wie durch eine dadaistische Kristallkugel ihr eigenes Leben betrachten. Das Thema der Collage, die Ausschau und Rückschau, nimmt Höch auf diese Weise selbst mit ins Bild. Auch den Entstehungsprozess der Collage können wir im unteren und oberen Bildstreifen sehen, wo Höch mit der Kamera experimentiert oder Modell sitzt. Diese reflexive Struktur durchzieht das gesamte Lebensbild und schliesst auch uns Betrachter/-innen ein: Unter dem Motiv mit dem Blick der Künstlerin durch das Ei gibt es das gleiche Foto mit einem anderen, vergrösserten Ausschnitt. Nur Höchs Hände mit dem Glasobjekt sind zu sehen, sodass wir nun gleichsam selbst durch das Ei blicken. Das alte Erinnerungsstück wirkt wie eine Kapsel verdichteter Zeit, durch die wir mit der Künstlerin auf ihr Leben und Werk schauen – wie das Lebensbild, das uns als Kondensationspunkt der Ausstellung des Selbst in die Ausstellung des Museums führt.
Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit der Berlinischen Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur realisiert.

* Dr. des. Alma-Elisa Kittner ist Kunsthistorikerin in Berlin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig
In Kürze erscheint ihre Dissertation «Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager».

Max Ernst – Im Garten der Nymphe Ancolie

Max Ernst – Im Garten der Nymphe Ancolie
12.09.2007 – 27.01.2008 | Museum Tinguely Basel

Von Guido Magnaguagno*

Das Schlafzimmer des Meisters ist ein mirakulöses kleines Aquarell des jungen Künstlers. Auf Holzdielen in waghalsiger Perspektive und extrem vergrösserten Raumverhältnissen tummeln sich die Fabelwesen seiner Träume. Als es mir kürzlich vergönnt war, das Geburtshaus Max Ernsts in Brühl bei Köln zu besichtigen und im Dachstock die engen Kinderzimmer des vielköpfigen Nachwuchses, fiel mir auch jene Zeichnung ein, welche Max Ernst 1934 dem jungen Andres Giedion auf einem Besuch im Zürcher Doldertal widmete. Auf demselben Dachboden entschlüpft darauf der Vogelobre Hornebom einem Riesenei, die Schnäbel sind ihm mit dem Brieföffner von Mutter Carola Giedion-Welcker in Frottage-Technik geschliffen.

Max Ernst, Der Vogelobre Hornebomm, ca. 1934
Max Ernst, Der Vogelobre Hornebomm, ca. 1934
Auf den Namen «Hornebom» hörte dabei ein rosa Kakadu, Max’ «bester Freund», der im Elternhaus Anfang 1906 in jener Nacht starb, als seine Schwester Loni auf die Welt kam. Von da an wurden Vögel Max Ernsts Inkarnationen. Dass «Hornebom» dabei zum vorderhand «obersten» der Vögel avancierte, hatte Max Ernst einem Huldigungsgedicht seines Kölner Dada-Mitstreiters Johannes Theodor Baargeld zu verdanken. Ende der Zwanzigerjahre löste ihn indessen «Loplop» in verschiedenster Vogelgestalt ab, und 1931/32 schuf der Künstler eine wegweisende Serie von Collagen unter der Affiche: Loplop présente … Darunter befindet sich auch ein Blatt, das als Bild im Bild auf der Staffelei des Künstlers einen Blütenzweig präsentiert, hinter dem sich unschwer erkennbar ein feminines Wesen versteckt hält. Von ihm sind als lineare Gebilde zwei Stöckelschuhfüsse und zwei Hände sichtbar, wobei die eine Hand eine Art Schote hält (oder streichelt?).
Max Ernst, Loplop présente ..., 1932
Max Ernst, Loplop présente …, 1932
Als nun der Künstler auf Vermittlung von Siegfried Giedion im Jahr 1934 den Auftrag für ein grosses Wandbild im neu umgebauten Zürcher Dancing «Corso» erhielt, griff er – im Jahr seiner Liaison mit Meret Oppenheim – wohl nicht ganz absichtslos auf diese Collage zurück. In riesig auf 4.15 x 5.31 m vergrösserten und ins Breitformat gezogenen Massstab fügte nun der bereits berühmte und umschwärmte Maler dem fleischigen Blüten- und Blätterwerk eines australischen Tropenbaums an Arp gemahnende oder seine eigene Bemalung von Maloja-Steinen aufnehmende Formen hinzu. Gleichfalls verlängerte er die Blätter zu Flügeln, um so ein insgesamtes «Gefieder» zu evozieren. Die Stöckelschuhe abgestreift, vergnügt sich nun die Nymphe Ancolie, welcher der Dada-Wort-Akrobat das «Mel» abgezwickt hat, im Blätterwerk mit dem von oben einfallenden Loplop. Noch verweist der Name der «Nymphomanin» auf die Akelei, die Blume der Melancholie, indessen knistert und zwitschert es im Blätterwerk sexuell, wie einiges organisches Zubehör in der oberen Bildzone andeutet. Diese Lesart eines lange als blosse Dekoration missverstandenen Wandbildes drängt sich umso mehr auf, als die Restaurierung des Werks nicht allein eine viel hellere, schwebende Farbigkeit freilegt, sondern auch die versteckten Inhalte. Vor Ort können die Ausstellungsbesucher die Verwandlung des Bildes von einer Bildtafel zur nächsten verfolgen und somit die Geburt und Entdeckung eines verborgenen Meisterwerks. Die Metamorphosen des Pflanzlichen ins Menschliche und die Evokation von Paradiesen und Liebesgärten gehören zu den zentralen Themen und Wunschbildern eines Künstlers, der wie wohl kein anderer im 20. Jahrhundert das Unbewusste erforschte. Seine Bildtechniken, wie vor allem das Prinzip Collage, seine Bildromane, die Frottage und Décalcomanies bescheren der Kunst eine Fülle von Bildfantasien, einen unerhörten Assoziationsreichtum, der das Reich der Sinne parallel zu den Erkundungen Sigmund Freuds oder André Bretons auslotet. Zwischen Ödipus und Gradiva, dem Sumpfengel und der Nymphe Echo, Apoll und Daphne.
Der wechselhaften Biografie des deutsch-französischen Künstlers (1891–1976) und seinen beiden Kriegserfahrungen und Exilen entsprechend, vergnügt er sich aber nicht nur in erotischen Gefilden, sondern registriert die Gewaltausbrüche der Zeitgeschichte seit den politischen Kölner Dada-Jahren ebenso. Immer wieder bevölkern Chimären und Barbaren seine Bilderwelt, und schon kurz nach den Aufenthalten in den Gärten der Ancolie und Hesperiden locken die «Flugzeugfallen«, überwuchern Urwälder ganze Städte und verschlingen Fabelwesen. Das Böse und der Tod lauern fast permanent hinter der Schönheit.
So werden in seinem Werk nicht allein seine persönlichsten Wunschträume sichtbar, sondern ebenso die Unwägbarkeiten und Verdunkelungen der Zeitgeschichte. Und als dritte Ebene entwickelt er seit seiner «Histoire Naturelle» die Bildwelt einer Erdgeschichte, in der er die vegetabile Natur als ewige und bestimmende Lebenskraft feiert.
Unsere thematische Ausstellung mit dem Glücksfall der Wiederentdeckung und Restaurierung von Pétales et jardin de la nymphe Ancolie aus dem Jahr 1934 lässt zu, das Werk des Künstlers aus einem innersten Kern aufzufächern. Sie zeigt chronologisch die Genese eines Bildthemas auf, seine Hochblüte und seine Verästelungen: Metamorphosen der Lust und der Gewalt. Wir verdanken diese seit 1963 (!) erste Schweizer Werkschau einer Vielzahl seltenst ausgestellter privater Leihgaben und berühmter Museumsstücke, der inspirierten Ägide des führenden Max-Ernst-Kenners Werner Spies, unserer Konservatorin Annja Müller-Alsbach und einem beflügelnden inneren Ansporn, von dem auch Sie sich leiten lassen mögen. Lassen Sie sich vom Meister in sein Schlafzimmer entführen und erlaben Sie sich unbekümmert wie Loplop am Nektar im Garten der Nymphe Ancolie.

* Guido Magnaguagno ist Direktor des Museum Tinguely

Die Restaurierung der Dauerleihgabe des Kunsthaus Zürich an das Museum Tinguely, «Pétales et jardin de la nymphe Ancolie» von Max Ernst, wird unterstützt durch das Museum Tinguely, ein Kulturengagement von Roche, und die Stiftung BNP Paribas Schweiz.

Die Situationistische Internationale (1957-1972)

Die Situationistische Internationale (1957-1972) – In girum imus nocte et consumimur igni
04.04.2007 – 05.08.2007 | Museum Tinguely

Von Stefan Zweifel*

Asger Jorn, L’avantgarde se rend pas (Modifikation), 1962 © Pro Litteris
Asger Jorn, L’avantgarde se rend pas (Modifikation), 1962 © Pro Litteris
In der Pariser Bar «Chez Moineau» versammelte sich 1950 eine Gruppe von wütenden und lebensmüden Rebellen, die später als Situationisten berüchtigt und als Auslöser der Revolte von 1968 berühmt werden sollten. Während die Existenzialisten auf der Terrasse des «Deux Magots» posierten und in Jazzkellern tanzten, kämpften die Situationisten mit Trinkgelagen und Strassenaktionen, mit Anschlägen auf Kunstwerke und den Eiffelturm, mit Anti­filmen und Mauer-Graffitis gegen jene Gesellschaft des Spektakels, die heute an der Art Basel und anderen Kunstmessen noch aus den grössten Tabubrüchen Kapital schlägt. Das Museum Tinguely zeigt die bislang grösste Ausstellung zur Situa-tionistischen Internationale, die am 28. Juli 1957 gegründet wurde. Pünktlich zu ihrem 50. Geburtstag werden 400 Exponate dieser letzten grossen Avantgarde-Bewegung mit 72 Künstlern und Sektionen in Deutschland, Holland, Amerika, Nordafrika und anderswo dem Vergessen entrissen.
Die Ausstellung führt vor Augen, dass die Situationisten nicht nur Vorläufer von Fluxus, Arte povera und Punk waren, sondern mit ihren architektonischen Utopien, Comic-Collagen, politischen Flyern und Aktionen im Mai 68 eine eigene Ästhetik schufen – auch wenn ihr eigentliches Ziel die «Überwindung der Kunst» war. Denn ob Pop-Art oder Jean-Luc Godard, Dada oder Le Corbusier, Surrealismus oder Brigitte Bardot: Die Situationisten warfen ihnen allen vor, sich auf der Kunstbörse zu verkaufen, und liessen dabei auch die ironische Ausflucht à la Warhol nicht gelten. Kein Wunder also: Wo immer man heute junge Künstler trifft, trifft man auf ihre Sehnsucht nach diesem letzten Resonanzkörper der Radikalität.
Die Situationisten wollten nicht Kunstwerke, sondern neue Situa-tionen schaffen, mitten in der Gesellschaft Verwirrung stiften und aus den Städten «psychogeografische Drehscheiben» machen. So gesehen war ihr grösstes Kunstwerk: der Pariser Mai 68. Sie hatten ihn von langer Hand geplant und als Okkupations-Komitee der Sorbonne geleitet. Nach dem Scheitern der 68er Revolte löste sich die Bewegung 1972 auf und verschwand aus dem öffentlichen Bewusstsein.
Dennoch wurde ihr Denken 1968 und während der Jugendunruhen 1980 auch in der Schweiz politische Realität und inspiriert bis heute u.a. die Globalisierungsgegner im Kampf gegen «Die Gesellschaft des Spektakels». Dass die Situationistische Internationale im Vergleich zu Dada und Surrealismus weitgehend unbekannt geblieben ist, mehr Gerücht als Gewissheit, hängt mit der masslosen Melancholie ihres Anführers Guy Debord zusammen.
Und so führen kein Rausch und kein Weg mehr zurück in jene Jahre der reinen Negation zwischen Zigarettenkippen und Rotweinflecken im Pariser «Saint-Ghetto-des-Prés» – ausser vielleicht Debords letzter Film von 1978 mit dem lateinischen Titel, der rück- und vorwärts-buchstabiert gleich lautet und die Koordinaten von Raum und Zeit wie von Wunderhand wegzaubert: IN GIRUM IMUS NOCTE / ET CONSUMIMUR IGNI.

«In Kreisen schweifen wir durch die Nacht und verzehren uns im
Feuer.»

*Stefan Zweifel ist Autor und Mitherausgeber des Ausstellungskatalogs

Kunstgenuss im Overall

Kunstgenuss im Overall
23.09. – 31.12.2006 | Museum Tinguely Basel

Die Förderung von zeitgenössischer Architektur, Kunst und Musik bei Roche als Thema zweier Ausstellungen im Museum Tinguely Von Heinz Stahlhut

Von Heinz Stahlhut*

Kunstsammlungen von Firmen haben in der letzten Zeit nicht nur gute Presse: So war jüngst zu lesen, dass für manche Firmen solche Sammlungen offenbar weniger kulturelles Engagement sind als vielmehr probates Mittel zur Wertschöpfung; indem sie massenhaft Werke junger, unbekannter Künstler kaufen, treiben sie die Preise hoch, nur um sie dann zur schönsten Hausse mit sattem Gewinn wieder zu verkaufen.
Das Healthcare Unternehmen Roche pflegt eine andere Politik: Sein Bestand an Kunstwerken, der laufend ergänzt und professionell betreut wird, dient nicht Repräsentation und Prestige, sondern trägt im Sinne der Mäzenatentätigkeit der Gründerfamilie – und hier besonders derjenigen Maja Sachers (1896–1989) – mit dazu bei, ein Innovation förderndes Umfeld zu schaffen. Dies verwundert nicht, besteht doch nach Hans Ulrich Reck die «besondere Qualität künstlerischer Arbeit […] im Anstoss der Wahrnehmung von Handlungen, deren naturwüchsige Abläufe durch Irritation und Sperrigkeit unterbrochen werden; damit verwandelt sich die Vorgabe der Reflexion in einer poetische Erfahrung, eine Bereicherung spielerisch erprobten Handlungsbewusstseins.»
Neben der Eigenschaft als Auftraggeber von zeitgenössischer Architektur, wofür in der Ausstellung «Eine begehbare Monographie» beispielhaft der qualitätvolle Bau 21 nach Plänen des Architekten Otto Rudolf Salvisberg (1882–1940) steht, beleuchtet die Schau «Kunstgenuss im Overall» die Förderung zeitgenössischer Kunst und Kultur durch Roche. Sie setzt ein mit der 1969 erfolgten Installation der eigens für diesen Zweck geschaffenen Werke von zeitgenössischen Künstlern wie Wolf Barth, Carl Bucher, Samuel Buri, Pierre Haubensack, Rolf Iseli, Bernhard Lüthi und Willi Müller-Brittnau in der mechanischen Werkstatt. Ziel dieser Aktion war es, die Begegnung zwischen Arbeitern, die selten Zugang zu zeitgenössischer Kunstproduktion hatten, und jungen Künstlern zu ermöglichen. Mit Werkgruppen von Künstlern und Künstlerinnen wie Markus Gadient, Serge Hasenböhler oder Franziska Furter aus der Roche Kunstsammlung zeigt sich in der Schau, dass deren Schaffen in vielen Fällen über mehrere Jahre hinweg verfolgt wird.Eine ebenso grosse Bedeutung hat daneben die Förderung zeitgenössischer Musik im Rahmen der «Roche Commissions» – Kompositionsaufträge an Komponisten wie Sir Harrison Birtwistle 2004, Chen Yi 2005 und Hanspeter Kyburz 2006 – und «Roche ’n’ Jazz» – der monatlich stattfindenden Jamsession mit internationaler Besetzung im Museum Tinguely.
Das Museum Tinguely schliesslich, das als Kulturengagement von Roche eine konsequente Sammlungs- und Ausstellungspolitik betreibt, fühlt sich dieser Maxime ebenso verpflichtet: Ein breites Angebot von Ausstellungen, regelmässigen Führungen und Veranstaltungen macht mit einem weiten Themenspektrum vertraut, das von den Maschinenplastiken des Schweizer Kinetikers über das Schaffen seiner Vorbilder und Künstlerfreunde bis zur Malerei australischer Aborigines oder den unkonventionellen Kompositionen Edgard Varèses reicht.

* Heinz Stahlhut ist Kurator der Ausstellung «Kunstgenuss im Overall»

Niki & Jean, l’Art et l’Amour

Niki & Jean – l’Art et l’Amour
29.08. – 21.01.2007 | Museum Tinguely Basel

Das Museum Tinguely zeigt die erste Würdigung des gemeinsamen Lebens und Schaffens von Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle.

Von Andres Pardey*

Als sich Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely 1956 zum ersten Mal trafen, hatten sie völlig andere Lebenswege hinter sich gebracht. Sie war 25 Jahre alt und entstammte einer französischen Adelsfamilie. Zwar war diese ein wenig verarmt, sie konnte es sich aber doch leisten, die Tochter in amerikanische Privatschulen zu schicken und ihr einen angemessenen Start ins Leben zu ermöglichen. Niki war schön und entsprechend begehrt, nicht nur als Fotomodell auf den Titelseiten von Vogue und Life. Ihr erster Mann, Harry Mathews, stammte aus Boston, war Schriftsteller und wollte sich zum Dirigenten ausbilden lassen. Das Paar zog also nach Europa, nach Paris, wo er Musik studierte und sie Schauspielkurse nahm. Jean wurde 1925 in eine Arbeiterfamilie geboren, er absolvierte eine Lehre zum Schaufenster-Dekorateur und zog 1952 mit seiner Frau Eva Aeppli nach Paris, um dort als Künstler zu leben.
Die Wege von Niki und Jean kreuzten sich im Atelier am Impasse Ronsin, wo er mit Eva in äusserst bescheidenen Verhältnissen lebte. Sofort entfaltete sich eine Freundschaft zwischen den zwei Ehepaaren, und 1960 dann entstand die Liebe, die aus zweien der vier Verlassene (die sich allerdings schnell zu trösten verstanden) und aus den anderen Zwei das machte, was nun Gegenstand der Ausstellung im Museum Tinguely ist: Niki & Jean, Bonnie and Clyde in Art, das aufregendste, glamouröseste, schönste Paar der Kunstwelt. Tinguely hatte gerade seine Reliefs und die Zeichenmaschinen hinter sich gelassen, Niki hatte gemalt und Materialreliefs erfunden. Nun waren beide auch künstlerisch bereit für Neues, der Aufbruch war total.
Im Oktober 1960 wurde die Gruppe der Nouveaux Réalistes gegründet, von Pierre Restany, mit Yves Klein, Daniel Spoerri, Arman, César und – natürlich – auch mit Jean Tinguely und später mit Niki de Saint Phalle. Neue Realitäten galt es nun zu schaffen, Jean schuf Schrott­skulpturen, Niki schoss auf Reliefs und verteilte die Farbe mit dem Gewehr. Die Schiessbilder, die „Étude pour une fin du monde“ Nrn 1 und 2, die Theaterproduktionen mit Robert Rauschenberg, John Cage, David Tudor und anderen, sie sprechen von der Lust am Happening, an der Inszenierung, am Ephemeren. Kunst durfte nun auch vergänglich sein, wie das Material, aus dem die Kunst von Niki & Jean entstand, Abfall, Schrott, Plastik, Gips, Papier-Maché. Und mitten in der Inszenierung standen die zwei Hauptfiguren und spielten auf der Bühne der Kunstwelt das Stück, das sie so meisterhaft beherrschten: Das des Künstler-Liebespaares, das von der Schönen und vom Biest in der Kunst.
In atemlosem Tempo folgten bald grosse Ausstellungen, Aktionen und Aufträge: DYLABY, die Ausstellung im Stedelijk-Museum im Amsterdam, in der sechs Künstler eigene Kunstwelten schufen. «HON», die begehbare Frauenskulptur im Moderna Museet in Stockholm. Für den französischen Pavillon an der Weltausstellung in Montreal entstand «Le Paradis fantastique». In Jerusalem baute Niki den «Golem», in Knokke den «Dragon». Es entstanden Filme, das «Crocrodrome» im Centre Pompidou, die «Fontaine Stravinsky» in Paris. Und dann natürlich die zwei Mega-Projekte des Paares: «Le Cyclop», der ab 1969 im Wald von Milly-la-Forêt gebaut wurde, Jeans Riesenkopf, der ein Gesicht von Niki hat, und an dem viele weitere Künstlerfreunde der beiden wie Bernhard Luginbühl oder Daniel Spoerri mitbauten, und dann «Il Giardino dei Tarocchi», Nikis Tarotgarten, bei Garavicchio in der Toskana, wo Jean die Rolle des mittelalterlichen Bauhüttenchefs übernahm und Nikis Figuren ins zehn-, ja fünfzigfache vergrösserte. Zusammenarbeit, Kollaboration hiess auch, sich in den Dienst des anderen zu stellen, hiess, vollständig in die künstlerische Kraft des anderen zu vertrauen und ins technische Geschick. Was sich in den sechziger Jahren so glamourös inszenierte, war eine lebenslange künstlerische Kooperation, die sich durch eine absolute Treue und vollständiges Vertrauen auszeichnete. Oder – wie Jean es in späten Jahren ausdrückte: L‘avantgarde – c‘est la fidélité.

* Andres Pardey ist Kurator des Museum Tinguely