Die Situationistische Internationale (1957-1972) – In girum imus nocte et consumimur igni
04.04.2007 – 05.08.2007 | Museum Tinguely
Von Stefan Zweifel*
In der Pariser Bar «Chez Moineau» versammelte sich 1950 eine Gruppe von wütenden und lebensmüden Rebellen, die später als Situationisten berüchtigt und als Auslöser der Revolte von 1968 berühmt werden sollten. Während die Existenzialisten auf der Terrasse des «Deux Magots» posierten und in Jazzkellern tanzten, kämpften die Situationisten mit Trinkgelagen und Strassenaktionen, mit Anschlägen auf Kunstwerke und den Eiffelturm, mit Antifilmen und Mauer-Graffitis gegen jene Gesellschaft des Spektakels, die heute an der Art Basel und anderen Kunstmessen noch aus den grössten Tabubrüchen Kapital schlägt. Das Museum Tinguely zeigt die bislang grösste Ausstellung zur Situa-tionistischen Internationale, die am 28. Juli 1957 gegründet wurde. Pünktlich zu ihrem 50. Geburtstag werden 400 Exponate dieser letzten grossen Avantgarde-Bewegung mit 72 Künstlern und Sektionen in Deutschland, Holland, Amerika, Nordafrika und anderswo dem Vergessen entrissen.
Die Ausstellung führt vor Augen, dass die Situationisten nicht nur Vorläufer von Fluxus, Arte povera und Punk waren, sondern mit ihren architektonischen Utopien, Comic-Collagen, politischen Flyern und Aktionen im Mai 68 eine eigene Ästhetik schufen – auch wenn ihr eigentliches Ziel die «Überwindung der Kunst» war. Denn ob Pop-Art oder Jean-Luc Godard, Dada oder Le Corbusier, Surrealismus oder Brigitte Bardot: Die Situationisten warfen ihnen allen vor, sich auf der Kunstbörse zu verkaufen, und liessen dabei auch die ironische Ausflucht à la Warhol nicht gelten. Kein Wunder also: Wo immer man heute junge Künstler trifft, trifft man auf ihre Sehnsucht nach diesem letzten Resonanzkörper der Radikalität.
Die Situationisten wollten nicht Kunstwerke, sondern neue Situa-tionen schaffen, mitten in der Gesellschaft Verwirrung stiften und aus den Städten «psychogeografische Drehscheiben» machen. So gesehen war ihr grösstes Kunstwerk: der Pariser Mai 68. Sie hatten ihn von langer Hand geplant und als Okkupations-Komitee der Sorbonne geleitet. Nach dem Scheitern der 68er Revolte löste sich die Bewegung 1972 auf und verschwand aus dem öffentlichen Bewusstsein.
Dennoch wurde ihr Denken 1968 und während der Jugendunruhen 1980 auch in der Schweiz politische Realität und inspiriert bis heute u.a. die Globalisierungsgegner im Kampf gegen «Die Gesellschaft des Spektakels». Dass die Situationistische Internationale im Vergleich zu Dada und Surrealismus weitgehend unbekannt geblieben ist, mehr Gerücht als Gewissheit, hängt mit der masslosen Melancholie ihres Anführers Guy Debord zusammen.
Und so führen kein Rausch und kein Weg mehr zurück in jene Jahre der reinen Negation zwischen Zigarettenkippen und Rotweinflecken im Pariser «Saint-Ghetto-des-Prés» – ausser vielleicht Debords letzter Film von 1978 mit dem lateinischen Titel, der rück- und vorwärts-buchstabiert gleich lautet und die Koordinaten von Raum und Zeit wie von Wunderhand wegzaubert: IN GIRUM IMUS NOCTE / ET CONSUMIMUR IGNI.
«In Kreisen schweifen wir durch die Nacht und verzehren uns im
Feuer.»
*Stefan Zweifel ist Autor und Mitherausgeber des Ausstellungskatalogs