Museum Tinguely | 20. Oktober 2021 bis 23. Januar 2022
Liebeserklärungen, Wutbriefe, Gedichte, Gebete, erotische Botschaften, Plädoyers, tagebuchartige Aufzeichnungen und utopische Erzählungen: Die oft kaum bekannten Schriftstücke von Art Brut-Künstler*innen erstaunen und faszinieren. Entstanden meist hinter verschlossenen Türen, in Stille und im Geheimen, tragen sie häufig keine Anschrift oder richten sich an
einen traumbildlichen oder spirituellen Adressaten.
Die in sonderbarer Schönschrift verfassten, hingekritzelten oder hastig notierten, mitunter gestickten oder mit Inbrunst in Stein geritzten Texte sind oftmals mit Bildern oder Zeichnungen ergänzt. Sie offenbaren eine verblüffende Kreativität, entspringen einem dringlichen Bedürfnis, sich auszudrücken, und stellen eine Art des tonlosen Widerstands dar.
Das Schreiben fördert die Selbstbeobachtung und wird zu einer wichtigen kreativen Ressource, die manchmal den Weg zu einer Identitätssuche oder der Erfindung eines anderen Lebens und andere Male den Aufbau einer neuen Welt oder die Umgestaltung des Kosmos ermöglicht. Zettel und Blätter, Hefte und Bücher, Körperschmuck und Banner werden Träger extravaganter persönlicher Inschriften, poetisch und plastisch zugleich. Sie unterstützen die hartnäckige Suche ihrer Autor*innen: die Suche nach dem Wesen der Dinge und Wörter.
Die 13 Urheber*innen – exzentrische Tagebuchverfasser, Briefschreiber oder utopische Autoren, noch von Jean Dubuffet oder in jüngerer Zeit entdeckt – sind frei von jedem Wunsch nach Öffentlichkeit. Sie gehen einfallsreich und ungeniert ans Werk und pflegen einen spielerischen Umgang mit Syntax, Grammatik und Orthografie. Statt auf Konventionen und Normen zu achten, beschäftigen sich Adolf Wölfli, Arthur Bispo do Rosário oder Giovanni Battista Podestà – den Jean Tinguely besonders schätzte – lieber mit sprachlichen Neuschöpfungen, semantischen Spielereien oder grafischen Labyrinthen aus Wörtern, Sätzen und Zeichen. Zeile für Zeile rütteln sie an Regeln und setzen sich über sie hinweg, besteht doch ihre Absicht nicht darin, zu kommunizieren oder Informationen auszutauschen. Stattdessen nehmen Gedanken ihren Lauf, oftmals verwirrende Ideen bilden sich heraus, und ihre Vorstellungskraft scheint die Autor*innen selbst zu überraschen. Das Schreiben nimmt einen performativen Wert an.
Die Wörter tanzen über das Papier, den Karton, den Stoff, die Wand oder den Boden und eröffnen überraschende visuelle und bildliche Dimensionen. Indem sie die Buchstaben zum Leben erwecken und Wort und Bild verschmelzen lassen, entfalten die Exponate eine ergreifende und inspirierende Poesie.
Die erstmals gezeigte Ausstellung vereinigt Werke aus einem Dutzend Museen sowie öffentlichen und privaten Sammlungen in verschiedenen europäischen Ländern und aus Brasilien. Dokumentarfilme und Fotografien laden das Publikum dazu ein, in die Universen der Künstler*innen einzutauchen und sie an ihren Wohn- und Arbeitsorten zu erleben. Begleitet wird die Ausstellung zudem durch einen Katalog von Lucienne Peiry mit zahlreichen Texten und fast 150 Illustrationen.