Edgar Degas
30.09.2012 – 27.01.2013
Fondation Beyeler, Riehen
von Michiko Kono*
Das Pariser Opernhaus war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine wichtige Attraktion der französischen Hauptstadt. Die Opéra Garnier, die nach fünfzehn Jahren Bauarbeiten im Januar 1875 eröffnet hatte, beherbergte schon damals eines der bedeutendsten Ballettensembles weltweit. Der Künstler Edgar Degas war ein passionierter Opernbesucher. Er wohnte nicht nur den Aufführungen bei, sondern gehörte auch zu den wenigen Privilegierten, denen es erlaubt war, sich hinter die Bühne zu begeben und dort die Balletttänzerinnen in ihrem Übungsraum oder kurz vor ihren Auftritten zu beobachten. Sorgfältig, fast obsessiv studierte er ihre Posen und Bewegungen, skizzierte ihre Aufmachungen ebenso wie die Kulissen und Probesäle. So entstanden zahlreiche Werke, für die Degas sehr bald berühmt wurde und die sich mit dem Thema des Balletts befassen – jenem Sujet, mit dem er künstlerisch auch heute noch assoziiert wird. Doch ist Degas weit mehr als nur ein Maler lieblicher Motive, für die sich junge Mädchen in ihren Träumereien, Ballerina zu werden, begeistern. Der späten Phase des künstlerisch äusserst produktiven Lebens Edgar Degas’ widmet die Fondation Beyeler nun eine Ausstellung, in der nicht nur Tänzerinnen, sondern auch weitere bekannte Motive seines umfangreichen Œuvres zu sehen sind. Prägend für das Spätwerk Degas‘ sind Serien, in denen er einige wenige Themen wie Balletttänzerinnen, weibliche Akte, Jockeys und Rennpferde sowie Interieurs, Landschaften und Porträts facettenreich variierte. Mit mehr als 150 Werken werden zum ersten Mal die Jahre um 1886 bis 1912 präsentiert, die den Höhepunkt von Degas’ Schaffen markieren. Gezeigt werden alle Techniken, in denen Degas gearbeitet hat: Malerei, Pastell, Zeichnung, Druckgrafik, Skulptur und Fotografie. Markant in dieser Vielfalt ist, dass sich bei Degas wie bei keinem anderen Künstler seiner Generation die verschiedenen Gattungen und Techniken gegenseitig stark beeinflussten.
Auffällig in Degas’ Spätwerk ist seine grosse Experimentierfreude. Häufig schafft er Räume, die in verschiedene Sequenzen unterteilt zu sein scheinen, sowie asymmetrische Kompositionen mit ungewöhnlichen Blickwinkeln. Die Posen der Dargestellten sind unkonventionell. Sie befinden sich auf der vordersten Bildebene und beanspruchen so den Raum für sich, manchmal auch über den Bildrand hinweg. Charakteristisch ist zudem die verführerische Leuchtkraft der Farben, die er vor allem durch die gekonnte Verwendung von Pastell (Farbkreide) erreichte – mit Pastell experimentierte Degas besonders gern.
Mit zunehmendem Alter befasste Degas sich auch mit dem Modellieren von Wachsskulpturen, die er nicht zu Ausstellungszwecken schuf und welche erst nach seinem Tod 1917 in Bronze gegossen wurden. Sie dienten ihm als Studien, dank deren er Bewegungen dreidimensional festhalten konnte. Der Kunsthändler Ambroise Vollard, eine der einflussreichsten Figuren der Pariser Kunstszene dieser Epoche, trug seine Erinnerungen an Degas in einem Buch zusammen, das nach dem Ableben des Künstlers erschien. Im Zuge eines ihrer Gespräche soll Degas gesagt haben: «Ich werde der Maler der Tänzerinnen genannt, man versteht nicht, dass die Tänzerin für mich nur der Vorwand gewesen ist, um hübsche Stoffe zu malen und Körper in der Bewegung wiederzugeben …» Degas’ unermüdliche Obsession, Bewegung darzustellen, ist auch in anderen Werkgruppen erkennbar. Ob nun die Darstellung einer nackten Frau bei der Toilette, der eine Bedienstete Wasser über den Rücken fliessen lässt, einer Badenden, die sich ihren Nacken mit einem Tuch trocknet, oder eines Pferdes, das vorbeigaloppiert – die Figuren scheinen für einen Augenblick in ihrem Bewegungsablauf innezuhalten. Vor dem Hintergrund seines Spätwerks, das massgeblich von Tänzerinnen und Badenden bestimmt ist, bilden Degas’ Landschaftsbilder eine ungewöhnliche Werkgruppe. Bei seinen Landschaften handelt es sich nicht um repräsentative Ölbilder, wie dies bei den stimmungsvollen Darstellungen der Impressionisten, etwa bei Claude Monet, der Fall ist. Degas schuf vielmehr kleinformatige Pastelle oder auf Papierbogen gedruckte Monotypien (Drucke), die er grösstenteils mit Pastell überarbeitete. Die Darstellungen wurden zunehmend abstrakt, sodass die Landschaften teilweise kaum mehr als solche erkennbar sind.
1886 stellte Degas zum letzten Mal zu Lebzeiten ein umfangreiches Ensemble seiner Werke aus. Mit fortschreitendem Alter litt er an einem sich verschlimmernden Augenleiden, das Gerüchte nährte, er sei erblindet und nicht mehr in der Lage zu malen. Tatsächlich liess Degas in seiner Produktivität und Experimentierfreude nicht nach. Er lebte spätestens ab den 1890er-Jahren sehr zurückgezogen, allein für und durch sein künstlerisches Schaffen. Dabei entstand eines der aussergewöhnlichsten, obsessivsten und berührendsten Spätwerke der europäischen Kunstgeschichte.
*Michiko Kono ist Kuratorin der Ausstellung