Edgard Varèse – Komponist Klangforscher Visionär
28.04. – 27.08.2006 | Museum Tinguely Basel
In Zusammenarbeit mit der Paul Sacher Stiftung zeigt das Museum Tinguely Basel die gemeinsam konzipierte, umfassende Ausstellung zum franko-amerikanischen Komponisten Edgard Varèse (1883–1965). Autographen und Dokumente aus dem jüngst von der Stiftung erworbenen und damit erstmals öffentlich zugänglichen Nachlass des Komponisten stehen im Dialog mit zahlreichen Werken befreundeter Künstler wie Alexander Calder, Marcel Duchamp, Joan Miró, die Varèse von ihnen als Geschenke erhielt.
Von Heinz Stahlhut
Manche Besucher werden sich vielleicht fragen, weshalb das Museum Tinguely eine Ausstellung zu einem Komponisten zeigt. Natürlich ist die Schau eine Hommage an Paul Sacher, den Gründer sowohl der Paul Sacher Stiftung, der bedeutenden Sammlung von Komponistennachlässen, als auch des Museums Tinguely, dessen zehnjähriges Jubiläum 2006 mit dem 100. Geburtstag Sachers zusammenfällt.
Darüber hinaus gibt es aber zwischen Edgard Varèse und Jean Tinguely einige Berührungspunkte: Etwa das an Naturwissenschaft und Technik orientierte Künstlerbild oder die Suche nach neuen Ausdrucksformen, die die Herausforderungen durch die Industriegesellschaft reflektieren. Hier soll jedoch vor allem von den Schlaginstrumenten die Rede sein, die im Schaffen von Varèse wie Tinguely eine wichtige Rolle spielen, weshalb während der Ausstellung auch eine Auswahl von Geräuschplastiken Tinguelys zu sehen sein wird.
Edgard Varèse, 1962: «Ich habe meine Musik ‹organisierte Klänge› genannt und mich selbst nicht einen Musiker, sondern einen ‹Arbeiter an Rhythmus, Frequenz und Lautstärke›. Tatsächlich war für einschlägig beeinflusste Ohren alles Neue in der Musik stets Lärm. Aber was ist denn Musik anderes als organisierter Lärm? Und ein Komponist gibt, wie alle Künstler, ungleichartigen Elementen eine Ordnung.» ( I decided to call my music «organized sound» and myself, not a musician, but «a worker in rhythms, frequencies, and intensities». Indeed, to stubbornly conditioned ears, anything new in music has always been called noise. But after all what is music but organized noises? And a composer, like all artists, is an organizer of disparate elements.)
Varèses Komposition «Ionisation» für 13 Schlagzeugspieler von 1931 wurde jüngst zu Recht als eine seiner kompromisslosesten Formulierungen einer Idee von Musik bezeichnet, die sich von der Tradition weitgehend emanzipiert hat («one of his most extreme statements of a conception of music only tangentially related to the past»). Vor ihm hatten erst im frühen 20. Jh. Komponisten wie Claude Debussy und Igor Strawinsky – angeregt durch aussereuropäische Musiktraditionen – begonnen, dem Schlagzeug eine autonomere Rolle im Orchester zuzuweisen. Hierauf konnte sich Varèse bei der sehr ungewöhnlichen, reinen Schlagzeugbesetzung beziehen, die nur durch zwei Sirenen komplettiert wird. So wurde nicht allein das bislang untergeordnete Schlagzeug zum selbstständigen Klangkörper, sondern der musikalische Klang wurde aus den Zwängen des temperierten Systems befreit und von einem linearen zu einem plastisch-räumlichen Phänomen gemacht.
«Der Ton – ich nenne es Ton. Ich komponiere mit ihm, ich verwerte ihn als Ausdruckselement; ebenso wie die visuelle, dreidimensionale Erscheinung ist er für mich […] zusätzlich einfach ein natürliches Bauelement der Arbeit, die ich mache.» (Jean Tinguely, 1960). Bei Tinguely setzt die Beschäftigung mit dem Phänomen des Schlagzeugklangs schon mit dem «Relief Méta-mécanique sonore II» von 1955 ein. Gegenüber den abstrakten Drahtreliefs, die mit ihren Rädern aus dünnem Draht selbst zarte Töne hervorbringen, weist das «Relief Méta-mécanique sonore II» eine entscheidende Neuerung auf: Unauffällig hat der Künstler Büchsen und Trichter, Gläser und Flaschen eingebaut, die durch Schlegel zum Klingen gebracht werden. Da man nie genau weiss, von wo der nächste Ton kommen wird, springt der Blick des Betrachters dem akustischen Ereignis immer hinterher. Bei diesem unwillkürlichen Nachvollzug des Kunstwerks durch den Betrachter versucht dieser nicht, einer angelegten Fährte zu folgen, sondern sind die Zeit des Kunstwerks und des Betrachters identisch. Im späten Schaffen zeigt sich Tinguely als grosser Symphoniker: Bei den monumentalen «Méta-Harmonien» wie «Fatamorgana» (1985) arbeitet der Künstler mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln: Neben zahlreichen, grossen, farbigen Holzrädern hat er Dinge eingebaut, mit denen unterschiedlichste akustische Reize hervorgebracht werden. Neben konventionellen Schlaginstrumenten nutzt er Fässer, Holzbalken, Stahlplatten und anderes, um den Gehörsinn spielerisch zu sensibilisieren und Klang und Raum miteinander zu verweben.