Edvard Munch – ein radikaler Neuerer

Edvard Munch – Zeichen der Moderne
18.03.2007 – 15.07.2007 | Fondation Beyeler

Die erste Sonderausstellung im Jubiläumsjahr widmet die Fondation Beyeler dem norwegischen Maler und Grafiker Edvard Munch (1863–1944). Im Mittelpunkt der gross angelegten Retrospektive steht die Bedeutung des Künstlers als Vorläufer und Begründer des Expressionismus, dessen Werk einen unentbehrlichen und eigenwilligen Beitrag zur Moderne darstellt.

Von Dieter Buchhart*

Kein Gemälde hat in Norwegen so viel Ärgernis erregt. – Als ich am Eröffnungstag den Saal betrat, in dem es hing, standen die Menschen dicht gedrängt vor dem Bild – man hörte Geschrei und Gelächter», beschrieb Munch später den Sturm der Entrüstung, der ihm bei der Präsentation des Gemäldes Das kranke Kind im Jahr 1886 entgegenschlug. Heute gelten Werke wie Das kranke Kind und das im gleichen Jahr geschaffene Selbstporträt als Ikonen der Moderne. Sie bilden auch als Signum einer radikalen Modernität den Ausgangspunkt der Ausstellung «Edvard Munch – Zeichen der Moderne». Unfreiwillig anerkannten Kunstkritiker bereits früh mit vernichtenden Bildbesprechungen und Vorwürfen wie «roh ausgeführt» oder «halbfertige Entwürfe» Munchs Vorreiterrolle und künstlerische Visionen.
Munchs Auseinandersetzung mit der Einsamkeit, der Liebe und dem Tod war unvergleichlich eindringlich. Er bezeichnete die Krise, die Vergänglichkeit und das Verschwinden des Individuums im Zeitalter der Industrialisierung. Seine Thematisierung der tiefsten menschlichen Gefühle und Grunderfahrungen ist schonungslos und treffend. Sein Werk, das von existentiellen Krisen und Brüchen begleitet wurde, ist zugleich von höchster Konsequenz bestimmt. Munch überschritt die konventionellen Grenzen zwischen künstlerischen Medien wie jene der Druckgrafik, Zeichnung, Fotografie, Collage und Malerei. Mit Werden und Vergehen, Zerstörung und Schöpfung setzte sich der Künstler auseinander in der Auflösung und Verschmelzung von Figuren mit dem Hintergrund, ihrer eigenwilligen Überschneidung des Bildrandes, dem Kratzen in die Farboberfläche bis hin zu seiner sogenannten «Rosskur», dem Aussetzen vieler Werke im Freien bei Regen und Schnee. Dabei experimentierte Munch im Sinne des Fragmentarischen ununterbrochen mit Material und Motiv und operierte dabei mit Kategorien einer neuartigen Kombinatorik und Einbeziehung von Brüchen. Experiment und Zufall sind integraler Teil von Munchs künstlerischem Konzept. Sein Umgang mit dem Material und die Betonung des Prozessualen seiner Arbeiten im Sinne des tatsächlichen Verschwindens von Materie weist ihn über seine Generation hinaus als Vorreiter aus. Mit der «Rosskur» integriert Munch nicht nur den Zufall, sondern auch den natürlichen Zerfall als Werkkomponente in seinen Schaffensprozess. In seinem Spätwerk erklärt er das Prozesshafte und das Temporäre als tatsächlich physisches Verschwinden von Materie zum allgemeinen Ausdruck von Vergänglichkeit seiner materialbasierten Modernität. Munchs Interesse an der Unmittelbarkeit und Experimentalität des Farbauftrags und sein unkonventioneller Umgang mit Motiv und Material öffnete bereits zur Jahrhundertwende einen Ausblick ins 20. Jahrhundert, denn erst Mitte der Vierzigerjahre widersetzten sich Künstler wie Jean Fautrier, Jean Dubuffet, Emil Schumacher oder Jackson Pollock dem traditionellen Verhältnis von Malerei und Form in einer Munch vergleichbaren Radikalität.
Mit mehr als 130 Gemälden und 80 Grafiken ist die Schau «Edvard Munch – Zeichen der Moderne» die wohl umfangreichste Munch-Ausstellung ausserhalb Norwegens nach dem Tod des Künstlers. Mit Munch setzt die Fondation Beyeler ihre konsequente Präsentation von Hauptvertretern der Moderne von Cézanne, Monet, Malewitsch, Mondrian, Matisse und Picasso fort. Es ist ein Novum, dass eine Ausstellung der Frage der Modernität in Munchs Werken nachgeht, diesen vom radikalen jungen Neuerer zum Vorläufer und Begründer des Expressionismus als Meister des Materials und künstlerischen Experiments vorstellt. Die retrospektiv angelegte Themenausstellung ist der Neuentdeckung von scheinbar Altbekanntem verschrieben und vereint neben Ikonen der Kunstgeschichte wie Das kranke Kind, Madonna, Melancholie, Vampir, Pubertät oder Selbstporträt in der Hölle auch zahlreiche selten oder seit dem Tod des Künstlers nicht mehr gezeigte Werke aus zahlreichen öffentlichen und privaten Sammlungen. Munchs höchst farbige Werke sind nicht nur Zeugnisse seines eigenwilligen, sondern auch entscheidenden Beitrags zur Moderne. Als zentrale und innovative Besonderheit seines Werks wird dabei das Thema des Verschwindens und des Entstehens des Motivischen gezeigt. Dieses Grundthema wird sowohl auf materieller wie auf motivischer Ebene nachvollzogen und bietet einen idealen Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit der radikalen Dimension von Munchs Modernität. Diese einzigartige Position des Künstlers wird in Relation zum klassischen Verständnis von Modernität untersucht, die auf jenen Werken fusst, die auch zu den Hauptwerken der Sammlung der Fondation zählen wie jene von Monet, Cézanne und Mondrian bis hin zu Rothko.
Die gezeigten Werke ermöglichen, ausgehend von Munchs frühem Bruch mit dem skandinavischen Naturalismus, die Auseinandersetzung mit seinen malerischen und druckgrafischen Experimenten. So treten in seinen Berliner Jahren (1892–1895) anstelle vom französischen Impressionismus und Postimpressionismus beeinflusster Themen Schilderungen der erlebbaren menschlichen Existenzangst des zivilisierten Menschen, der Einsamkeit und des Schmerzes. Mit Madonna, Pubertät, Kuss oder Vampir schafft Munch jene Themen, die ihn ein Leben lang begleitet haben und die er in der Folge zum Lebensfries kombiniert. Seinen Experimenten mit der Druckgrafik in Paris der Jahre 1896/97 folgen monumentalere und flächiger angelegte Gemälde. Nach unsteten Jahren der persönlichen Krise, zahlreicher Reisen innerhalb Europas lässt sich in der Schau ein charakteristischer Stilwandel hin zu Werken von unvergleichlicher Farbintensität und Expressivität erkennen. Seine Auseinandersetzung mit Fotografie und Bewegung und in der Folge auch mit dem Stummfilm setzt er auch nach seinem nervlichen Zusammenbruch im Jahr 1908 und seiner folgenden Genesung konsequent fort. Die Ausstellung folgt seiner künstlerischen Entwicklung bis hin zu dem fulminanten Spätwerk und der Auflösung seines Selbst in seinen letzten Selbstporträts.

* Dieter Buchhart ist Kurator der Edvard Munch-Ausstellung

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