Ein neuer Blick auf Jean Tinguelys Werk

Tinguely@Tinguely
Ein neuer Blick auf
Jean Tinguelys Werk
07.11.2012 – 30.09.2013
Museum Tinguely

von Roland Wetzel*

Sechzehn Jahre und schon über fünfzig Ausstellungen ist es her seit Eröffnung des Museum Tinguely im Oktober 1996. War die Erinnerung an Jean Tinguely als «unser Jeannot» und als öffentliche Person damals noch sehr präsent, so rückt mit der zeitlichen

Distanz sein Œuvre wieder mehr in den Mittelpunkt.

Tinguely kann heute als wichtiger Impulsgeber der internationalen Kunstszene um 1960 wiederentdeckt werden. Wir nehmen dies zum Anlass, um sein Werk in einer grossen Überblicksausstellung neu zu sichten und vorzustellen.

Zusammen mit der Neupräsentation von Tinguely@Tinguely erscheint ein neuer, umfassender Sammlungskatalog, der die gewachsene Sammlung und die Arbeit des Museums seit 1996 vorstellt und sowohl als Standardwerk für die künftige Tinguely-Forschung als auch als Nachttischlektüre für Freunde seiner Kunst gedacht ist.

Die Ausstellung zeigt einen umfassenden Überblick über Tinguelys Œuvre und stellt ihn als grossen Erneuerer und Erfinder der Kunst und insbesondere der kinetischen Kunst nach der Mitte des 20. Jahrhunderts vor. In einem eigentlichen Schaffensrausch erfand er 1954–1955 mit den Méta-Herbins, den Méta-Malevitchs, den Blanc sur blancs, den ersten Machines à dessiner und den Volumes virtuels in kurzer Zeit Werkgruppen, die den abstrakten Spielformen der europäischen Nachkriegskunst mit ihrer Bewegung, der Einbindung des Zufallsmoments und der Hinwendung zur Aktivierung der Sinne neue Wege eröffneten. Die Méta-Malevitch-Reliefs scheinen die Vorstellung Kasimir Malevitchs von der aeronautisch-bewegten Animation und Abstraktion der Landschaft mithilfe der Kinetik zu erfüllen. Die Méta-Matics, seine Zeichenmaschinen, liefern eine der witzigsten und gleichzeitig komplexesten Antworten zu Walter Benjamins Diktum des «Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit».

Tinguelys Schaffen ist von zahlreichen einschneidenden Wendungen geprägt. Sie zeigen die Offenheit, mit der er seine Kreativität lebte, am Kunstgeschehen teilnahm und dieses auch mitgestaltete.

1960 begann er, Aktionen und Happenings mit einer durch Objets trouvés bestückten radikalen Schrott-Ästhetik zu verbinden und die toten Abfallprodukte der Konsumgesellschaft zu neuem, eigensinnig-absurdem, aber oft nur kurzem Leben zu erwecken.

Die sich selbst zerstörenden Kunstwerke und Aktionen, die in Paris, London, New York, Humlebæk, in der Wüste von Nevada und an weiteren Schauplätzen stattfanden, zeigten ihn inmitten einer jungen Generation neodadaistischer Aktionskünstler. Homage to New York von 1960 ist das erste sich selbst zerstörende Kunstwerk überhaupt. Es kommentiert auf dramatische und spektakuläre Weise das Potenzial der Zerstörung der Welt, das politisch und gesellschaftlich in der Luft des Kalten Krieges lag. Die auf ihre mediale Repräsentation angelegte Zerstörungsaktion Study for an end of the World No. 2 trug bereits das Potenzial der Inszenierung von Landschaft in sich, wie es Jahre später mit der Land Art erst richtig entwickelt wurde. Eine neue Dynamik ist den ab 1963 entstandenen schwarzen Skulpturen eigen. Die Erscheinung der Skulpturen wurde kompakter und durch die mattschwarze Bemalung einheitlicher. Mit der für die Expo 1964 in Lausanne entstandenen Heureka war ein Höhepunkt in dieser Entwicklung erreicht. Die Skulpturen Eos, Bascule, Char, Santana und auch Hannibal waren weitere Spielformen in dieser Reihe von Werken.

Für Tinguelys Schaffen waren die seit den 1960er-Jahren entstandenen Gemeinschaftsarbeiten von grosser Bedeutung. Le Cyclop, der zwischen 1971 und 1991 in Milly-la-Fôret südlich von Paris entstand, trug die Idee eines Gesamtkunstwerks in sich. Es ist eine kollektive «Freundschaftsplastik» von über 22 Metern Höhe, die von befreundeten Künstlern wie Niki de Saint Phalle, Bernhard Luginbühl, Daniel Spoerri, Eva Aeppli und vielen weiteren mitgestaltet wurde.

Mit dem Werkstoff Eisen hat sich Tinguely ein Material von grosser Dauerhaftigkeit und Stabilität ausgesucht, dennoch thematisiert er in seinen Skulpturen stets die Vergänglichkeit oder zumindest die Vergänglichkeit des Nutzens dieses Materials in produktiven Apparaten. Der Gegensatz zwischen stabilen und ephemeren Elementen tritt bei den Brunnenskulpturen auf besonders poetische Weise hervor. Beim Fasnachtsbrunnen von 1977 entwickelte Tinguely eine Meisterschaft darin, die Wasserspritzer und Fontänen für Momente der Schwerkraft zu entreissen und mit ihnen auf vielfältige Weise in die Luft zu zeichnen. Jede Wasserskulptur hat ihren eigenen Charakter, ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene grafische Signatur. Zusammen führen sie eine theatral-parodistische Wassermusik auf, die im Winter zu grandiosen Eisskulpturen erstarrt.

Tinguelys Skulpturen sprechen den Betrachter stets auf mehreren Ebenen an. Sie haben kinetische, optische, akustische, manchmal auch olfaktorische und haptische Ausstrahlung. Eine der vielseitigsten und monumentalsten Werkserien sind die vier Musikmaschinen, die zwischen 1978 und 1985 entstanden. Zwei von diesen komplexen Grossskulpturen sind im Museum Tinguely zu sehen. Die Méta-Harmonie II von 1979 als Leihgabe der Emanuel Hoffmann-Stiftung, die Fatamorgana Méta-Harmonie IV von 1985 ist Teil der Sammlung.

Zu der Reihe von akustisch wirkenden Grossskulpturen kann auch die Grosse Méta-Maxi-Maxi-Utopia von 1987 gezählt werden. Sie ist als einzige dieser grossen Installationen begehbar. Der Mensch wird darin – wie bei Charlie Chaplins Modern Times – zum Teil oder Produkt der Maschine und verliert sich in einem mechanischen Labyrinth und Räderwerk. Die Grosse Méta-Maxi-Maxi-Utopia ist ein komplexes theatrales Werk, das Tinguelys Hang zum Performativen besonders zur Geltung bringt.

Tinguely hatte viele Passionen, eine der grössten war seine Faszination für den Motorrennsport. Dessen Faszination und Schrecken, die hohe Perfektion in der Verbindung von Mensch und Maschine, aber auch die latente Gefahr von Unfall, Chaos und Tod faszinierten ihn ein Leben lang. Die Freundschaft mit dem Rennfahrer Jo Siffert eröffnete ihm den Blick hinter die Kulissen. Sein Terminkalender richtete sich viele Jahre nach den Daten der Formel-1-Rennen und führte ihn bis nach Japan oder Südafrika. Es liegt auf der Hand, dass er diese Eindrücke auch künstlerisch verarbeitete. Beim Klamauk von 1979 konterkariert ein rauchendes, langsam vorwärts kriechendes Rädergetriebe den dynamischen Rennwagen.

Tinguely war einer der radikalsten und subversivsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Viele Grundfragen unserer Existenz scheinen in seinen Werken auf: Das Verhältnis des Menschen zur Maschine, das Gemeinschaftswerk, Schönheit und Nutzlosigkeit der Bewegung, der Klang, das Geräusch und die Musik, das Schattenspiel, die Leichtigkeit und die Schwere, die Auflösung und die Leere, die Elemente und die Infragestellung der Rollen von Autor, Zuschauer und Kunstwerk. Dass Tinguelys künstlerische Errungenschaften mit Leichtfüssigkeit, Humor, Ironie und Pa-rodie einhergehen, zählt zu den besonderen Qualitäten seines Œuvres. Es reicht von duchampschem Dadaismus über geometrische Abstraktion und kinetische Animation bis hin zu barocker Üppigkeit.
*Roland Wetzel ist Direktor des Museum Tinguely und Kurator der Ausstellung

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