Hannah Höch – Aller Anfang ist DADA
16.01.2008 – 04.05.2008 | Museum Tinguely Basel
Von Alma-Elisa Kittner*
Die letzte und grösste Fotocollage von Hannah Höch mit dem Titel Lebensbild war für die Künstlerin selbst eine Überraschung: «Ich hatte bei diesem Original-Foto-Bild an Landschaft, Stillleben, Weltanschauliches (…) gedacht (…), aber – nicht an eine Selbstbespiegelung», schildert sie in Briefnotizen an das Fotografenpaar Liselotte und Armin Orgel-Köhne. Und weiter heisst es in den Aufzeichnungen aus dem Archiv der Berlinischen Galerie: «Als Sie mir aber reiches Material schickten, (…) war ich entzückt und wusste – nun kann ich mir doch noch den Wunsch erfüllen, mit künstlerischem Massstab – an eine Original Fotomontage oder Collage heranzugehen (…)» Einmaliger Zufall und lang gehegter Plan, repräsentative Selbstdarstellung und Zusammenarbeit mit anderen: Die 1,30 mal 1,50 Meter grosse, fast monumentale Collage aus den Jahren 1972/73 vereint Gegensätzliches und nimmt im Werk der Künstlerin eine Ausnahmestellung ein.
Mit «Original-Foto-Bild» meint Höch, dass sie hier zum ersten Mal manuell abgezogene Schwarz-Weiss-Fotografien benutzt. Ihr Kooperationspartner, das Fotografenpaar Orgel-Köhne, liefert ihr auf Wunsch Abzüge, Reproduktionen, Vergrösserungen oder Ausschnitte ausgewählter Bilder. So lässt Höch Aufnahmen aus ihrem Privatarchiv abfotografieren, die ihre Freunde, Familie und sie selbst in unterschiedlichen Lebenssituationen zeigen – von der Kleinkindaufnahme über einen Schnappschuss mit Raoul Hausmann am See bis hin zu Porträts der letzten Lebensphase, in der sie das Lebensbild entwickelt. Diese Porträts entstanden anlässlich der umfangreichen Höch-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste 1971, die ihre Collagen aus den Jahren 1916–1971 zeigte – es sind im Lebensbild die grossformatigen Köpfe der weisshaarigen Dame, die sofort ins Auge springen. Zeitgleich fotografierten die Orgel-Köhnes die Collagen Hannah Höchs als Dokumentation, wie auch die Aufnahmen von Haus und Garten der Künstlerin am Rande Berlins in Heiligensee zunächst den gleichen Zweck verfolgten. Genau zwischen diesen beiden Polen der unterschiedlichen Bildquellen, dem Privaten des eigenen Fotoalbums und dem Öffentlichen der repräsentativen Selbstdarstellung, spannt Höch im Lebensbild den Bogen zu einer visuellen Autobiografie.
Mit dem Begriff der «Autobiografie» sollte man jedoch nicht in die «Authentizitätsfalle» tappen und meinen, hier würde man alles Intime und Wahre über die Künstlerin erfahren. Zwar verkündet einer der bekanntesten literarischen Autobiografen Jean-Jacques Rousseau in seinen Bekenntnissen, er würde sich «in seiner ganzen Naturwahrheit» vorführen und den Lesern und Leserinnen «sein Innerstes entschleiern», und gerade in der Entstehungszeit der Collage, Anfang der 70er-Jahre, spriesst allerorten die Geständnisliteratur mit dem Anspruch auf Authentizität. Doch es ist ein rhetorischer Kunstgriff und Teil einer poetischen Strategie, bei der die Erinnerung immer ein Produkt des Sammelns, Auswählens und Verdichtens ist: ähnlich einer Collage. Die autobiografische Geste, «das Ganze» zeigen zu wollen, wird bei Höchs Lebensbild daher zu einer verdichteten Darstellung und Verknüpfung ihres Lebens und Werks. Den retrospektiven Blick auf ausgewählte biografische Stationen überkreuzt sie mit einer Retrospektive ihres Collagen- und Montagenwerks. Fast im gesamten oberen linken Viertel im Lebensbild stellt Höch ihre Collagen und Montagen aus den 10er- bis 60er-Jahren als reproduzierte Zitate aus. Der Hintergrund, rhythmisch komponierte Farbstreifen aus ihrer Magazinsammlung, wird hier am stärksten sichtbar. Damit wird auch ein Aspekt der Auswahl klar, wie es die Künstlerin in einem unveröffentlichten Tonbandprotokoll der Orgel-Köhnes formuliert: «Hier wird nur Person Höch mit Collage (dargestellt).» Ihr malerisches Werk kommt nur mit dem Gemälde Die Braut (Pandora) vor, das jedoch in Collagetechnik gemalt wurde. Der Kopf der kindlichen Braut wendet sich einem Dreiklang verschiedener Weiblichkeitsformen zu: Die Montage Dompteuse mit ihrem männlichen Oberkörper kommentiert spielerisch das Bild des dümmlich dreinblickenden Deutschen Mädchens, das von dem Gesicht eines Stiefmütterchens flankiert wird.
Auch in den anderen zitierten Collagen, von denen zahlreiche in der Ausstellung zu sehen sind, fächert Höch ein Kaleidoskop von Weiblichkeitsvorstellungen auf, die mit den verschiedenen Rollen in Dialog treten, in denen sie sich selber zeigt: unter anderem als Tochter, Partnerin und Künstlerin. So montiert sie dem verdutzten Kleinkind einen Pinsel in die Hand, an dessen Spitzen ein Bund Augen hängt, Teile aus der Collage Strauss. Das Genie zeigt sich schon in frühester Kindheit, so die traditionelle Legende des männlichen Künstlers. Höch wendet sie ironisch, um sich zugleich als Collagistin und Malerin zu präsentieren, deren wichtigstes Werkzeug ihr Blick ist.
Das Sammeln als künstlerische Identität
Doch zu Hannah Höch gehört noch eine dritte Facette ihrer künstlerischen Identität: das Sammeln. Die Kunst ihrer Freunde sammelte sie – und rettete sie über die Zeit des Nationalsozialismus – doch taucht sie in der Darstellung der «Kleinen Galerie» nur als Verweis auf. Sie sammelte ebenso Pflanzen, die den Grundstock für ihre Gartenmontage bilden, die bis heute existiert und als Versatzstück des Organischen im Lebensbild aufscheint. Ein prominentes Sammlungsstück bilden riesige Kakteen, Höchs älteste Pflanzen, die fingerartig von unten ins Bild ragen und sowohl den Betrachterblick als auch Höchs Blick aus den Doppelaugen vergittern. Die «Stachligen» rahmen zugleich eine andere Form der Sammelstücke: hier das Glasei, das als ältestes Stück aus dem Jahr 1894 zu Höchs Sammlung abseitiger, scheinbar banaler Miniaturen gehört. Sie bewahrte sie in ihrem Raritätenkabinett, dessen Name bezeichnenderweise zum Rarit verkleinert wurde.
Die «Minis» werden im Lebensbild zu Stillleben vergrössert und erobern sich als Objektporträts den Raum. Die Stickerei – in der Fotografie Hannah Höch vor ihrem Rarit im Hintergrund zu sehen – thront majestätisch zwischen zwei Höch-Porträts und schaut auf den Glastanz herunter. Unten links blickt die Künstlerin selbst durch das Glasei. Fast scheint es, als würde sie wie durch eine dadaistische Kristallkugel ihr eigenes Leben betrachten. Das Thema der Collage, die Ausschau und Rückschau, nimmt Höch auf diese Weise selbst mit ins Bild. Auch den Entstehungsprozess der Collage können wir im unteren und oberen Bildstreifen sehen, wo Höch mit der Kamera experimentiert oder Modell sitzt. Diese reflexive Struktur durchzieht das gesamte Lebensbild und schliesst auch uns Betrachter/-innen ein: Unter dem Motiv mit dem Blick der Künstlerin durch das Ei gibt es das gleiche Foto mit einem anderen, vergrösserten Ausschnitt. Nur Höchs Hände mit dem Glasobjekt sind zu sehen, sodass wir nun gleichsam selbst durch das Ei blicken. Das alte Erinnerungsstück wirkt wie eine Kapsel verdichteter Zeit, durch die wir mit der Künstlerin auf ihr Leben und Werk schauen – wie das Lebensbild, das uns als Kondensationspunkt der Ausstellung des Selbst in die Ausstellung des Museums führt.
Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit der Berlinischen Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur realisiert.
* Dr. des. Alma-Elisa Kittner ist Kunsthistorikerin in Berlin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig
In Kürze erscheint ihre Dissertation «Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager».