Haroon Mirza/hrm199 Ltd.
10.06.2015 – 06.09.2015
Von Roland Wetzel
Vielen ist Haroon Mirzas Werk von der Biennale 2011 in Venedig bekannt: Im Arsenale baute er ein vielkantiges, pyramidenförmiges architektonisches Konstrukt ein, das die Besucher in sein Inneres sog, sie einem akustisch und optisch dumpf-aseptischen Raumempfinden aussetzte, das in Intervallen durch einen von durchdringendem Ton begleiteten gleissenden Lichtkreis überblendet wurde. Mirza gewann mit dieser Installation einen der Hauptpreise der Biennale.
Im Museum Tinguely erhält er die Gelegenheit, seine bisher grösste Einzelausstellung einzurichten. Unsere Einladung nutzte er, um neben wichtigen bestehenden Werken eine ganze Reihe von neuen Arbeiten und raumgreifenden Installationen zu entwickeln, die einen Teil der grossen Eingangshalle, das Untergeschoss, den Park vor dem Museum und eine Intervention im zweiten Obergeschoss umfassen.
Mit dem etwas kryptischen Titel Haroon Mirza/hrm199 Ltd. will Mirza nicht sich selbst als Künstler in den Mittelpunkt stellen, sondern die Frage, wie man die zahlreichen Beteiligten an jedem schöpferischen Prozess als Teile eines Ausstellungsprojektes einbinden kann. Die Ausstellung trägt deshalb nicht nur seinen Namen, sondern die Namen vieler Künstlerinnen und Künstler, die sich auf der Plattform hrm199 Ltd., dem Firmennamen von Mirzas Studio in London, zu Materialaustausch, künstlerischem Dialog, Zusammenarbeit, Ko-Autorschaft oder zur Aneignung und Umformung künstlerischen Materials zusammengefunden haben. Eine vergleichbare Vorgehensweise findet sich bei Filmproduktionen, bei denen der kreative Prozess viele Akteure sowie Spezialisten einbindet, die als Protagonisten auch gegen aussen in Erscheinung treten.
Haroon Mirzas Installationen und Environments lassen sich im Hier und Jetzt einer konkreten Präsen-
tationssituation erfassen und verweigern sich weitgehend einer Aufzeichnung und Darstellung, die ihre Komplexität reduziert. Seine künstlerische Praxis hat ihren Ausgangspunkt in der Musik, im Rhythmus und in (Schall-)Wellen, um sehr schnell auch andere Sinne zu inkorporieren: vom Geräusch zur Sättigung des Taktilen, von der Tonspur zu deren visueller Darstellung als Landschaft, vom Klang-Körper zum Skulpturalen, zur Lichtinstallation und zur Assemblage, die den Zufall zum Komplizen macht: technoide Synästhesien, die in formaler Präzision komplexe Narrationen entfalten können.
Mirzas Installationen erfassen und umfassen den Ort ihrer Präsentation. Der Struktur ihrer Anordnung und Funktionsweise ist ein vielschichtiger Dialog mit dem verarbeiteten Material eingeschrieben, seien es die found footage
anderer Künstler, sei es ein anderes «Rohmaterial», das eine kreative Anverwandlung und Transformation erfährt. Sie werden kombiniert zu kontrapunktischen und manchmal disparaten Gefügen, die sich darüber hinaus auch als ausstellungsspezifische Kombinationen einzelner Werke oder Werkgruppen des Künstlers selbst abspielen können.
Ein wiederkehrendes Motiv bei Mirzas Werken ist der «Missbrauch», die kreative Verfremdung von Apparaten und Funktionszusammenhängen, als Strategie der Brechung und Erweiterung von Möglichkeiten. Die grosse Klammer, die aus scheinbar disparaten Elementen eine in der Zeit sich entwickelnde Gesamtkomposition macht, sind sowohl der Resonanzkörper des präzise bespielten architektonischen Raumes als auch die Schallwellen eines klingenden Rhythmus, die mit vielfältigen Verfahren elektrisch erzeugt werden. Diese musikalischen
Capricci entwickeln sich in klassischer Form und vereinen die formale Strenge einer Bach’schen Fuge mit repetitiv-minimalistischen Techno-Beats, die direkt das viszerale Nervensystem ansprechen. Die offene Form der Installationsanordnung ist so zugleich geprägt durch eine ganzheitliche Inkorporation aller Objekte.
Mirzas künstlerisches Schaffen vollzieht sich als permanentes Experiment, dem die kritische Analyse von Entstehungsbedingungen und Kategorisierungen der Kunstproduktion eingeschrieben ist. Es sind Grenzgänge, die beispielsweise das Potenzial der Verkörperlichung, Verräumlichung und Visualisierung von Klang umfassen, sich auf dem schmalen Grat zwischen Geräusch und Musik, zwischen «hearing» und «listening» bewegen. Die immersiven Erfahrungen, die seine Arbeiten generieren, werfen gleichzeitig wahrnehmungs-
theoretische Fragen nach sinnlich-relationalen Prozessen auf, nach den Wahrscheinlichkeiten von Synästhesie. Fragen zu Wesen und Wirkung, zu Materialität und Medialität hat Mirza durch Theorien von Marshall McLuhan und Paul Levinson rezipiert. Die Faszination für die digitalen Prozesse der Transformation, der Kodifizierung und Dekodifizierung gehört essenziell zu seinen Arbeiten wie auch seine Versuche mit autonomen, sich selbst regulierenden Systemen.
Mit künstlerischen Verfahren der Appropriation, der Verwendung von Readymades und Reverse Readymades sowie der Einführung von Self-Governing Systems befragt Mirza die Produktionsbedingungen von Kunst und dekonstruiert auf spielerische Weise die Rolle des Autors und des Künstlers. Mittels Störung und Dekontextualisierung werden Objekte zu prekären Akteuren, die auf ein Anderes verweisen.
Ein wichtiger Strang des Ausstellungsprogramms des Museums Tinguely befragt Kernideen von Jean Tinguelys innovativer Kunstpraxis für die Gegenwart. Im Zentrum dieses generationenübergreifenden Dialogs stehen Fragen, die Tinguely als prägende Figur der künstlerischen Avantgarde um 1960 stellte. Er schuf als Chronist des letzten Maschinenzeitalters kinetische Ins-tallationen zur Abhängigkeit von Mensch und Maschine, die zwischen Empathie und Kritik schwanken. KünstlerInnen der Gegenwart reflektieren die sich verändernden Abhängigkeiten von digitalen, technischen «Lebenserleichterungen» und Körpererweiterungen, wobei sich ihre künstlerischen Strategien im Hinblick auf den Eingriff in den Alltag, die performativen sowie die partizipatorischen Qualitäten der Interaktion multisensorisch angelegter Werke mit Tinguely vergleichen lassen. Von Brisanz bleibt die Inspiration durch Alltägliches, durch Humor und Ironie als Träger einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Das Spiel, der Zufall, das Experiment und das Scheitern (mit dem Potenzial, Neues zu schaffen) haben als Strategien kreativer Manifestation ihren Wert seither noch erhöht. Dafür steht exemplarisch auch die Ausstellung von Haroon Mirza, durch welche die Räume des Museums auf faszinierende Weise verwandelt werden.
*Roland Wetzel ist Kurator
der Ausstellung und
Direktor des Museum Tinguely, Basel