31. Januar 2016 – 8. Mai 2016
Fondation Beyeler
Von Raphael Bouvier*
Jean Dubuffet (geboren 1901 in Le Havre; gestorben 1985 in Paris) gehört zu den prägenden Künstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erst im Alter von 41 Jahren gab er 1942 seine Arbeit als erfolgreicher Weinhändler auf, um sich ganz der Kunst zu widmen. In den darauffolgenden vier Jahrzehnten entstand ein einzigartig vielschichtiges Schaffen voller faszinierender Veränderungen und überraschender Wendungen, die Dubuffets Kunst in besonderem Masse auszeichnen.
Inspiriert von den Werken gesellschaftlicher und künstlerischer Aussenseiter, für die er den Begriff Art brut nachhaltig prägte, sowie unter dem Eindruck der Bildsprache von Kindern, gelang es ihm, sich von überkommenen Traditionen zu befreien und auf seiner stetigen Suche nach Wahrhaftigkeit die Kunst geradezu neu zu erfinden.
Entsprechend verfolgte Dubuffet denn auch den Grundsatz, dass «die wahre Kunst immer da ist, wo man sie nicht erwartet». Als Meister der Experimente entwickelte er für seine Bilder innovative Techniken und arbeitete dabei auch mit unkonventionellen Materialien, die bislang kaum als kunstwürdig galten und den ästhetischen Normen weitgehend widersprachen. So verwendete er für seine verschiedenartigen Gemälde und Collagen etwa Sand, Kieselsteine, Kohlestaub, Laubblätter und sogar Schmetterlingsflügel und griff auf Schwämme, verbranntes Holz, Lavastein und Schlacke zurück, um herrlich bizarre Skulpturen zu schaffen. In dieser, wie er sie selbst nannte, «antikulturellen» Perspektive eröffnete Dubuffet neue künstlerische Wege und Möglichkeiten, die in der jüngeren Kunst und Street Art bei so unterschiedlichen Künstlern wie David Hockney, Claes Oldenburg, Jean-Michel Basquiat oder Keith Haring ihre Fortsetzung fanden.
Auch Ernst Beyeler war von Dubuffets künstlerischer Innovationskraft tief beeindruckt, sodass zwischen dem Künstler und dem Galeristen eine intensive Zusammenarbeit entstand, die schliesslich zu einem langjährigen Exklusivvertrag führte. Nicht zuletzt aufgrund dieser engen Verbindung befinden sich heute zahlreiche Hauptwerke Dubuffets in der Sammlung Beyeler.
Die Ausstellung Jean Dubuffet – Metamorphosen der Landschaft in der Fondation Beyeler ist die erste Retrospektive des Künstlers in der Schweiz im 21. Jahrhundert und präsentiert anhand von über 100 hochrangigen Gemälden und Skulpturen aus internationalen Museen und Privatsammlungen alle grossen Schaffensphasen und künstlerischen Entwicklungsstufen in Dubuffets überaus reichem Œuvre. Manche dieser Werke werden in der Ausstellung zum ersten Mal überhaupt öffentlich gezeigt, andere dürfen nach mehreren Jahrzehnten nun erstmals wieder von einem grossen Publikum erlebt werden.
Als grosse Retrospektive verfolgt die Ausstellung zugleich auch einen thematischen Schwerpunkt, indem sie von Dubuffets faszinierender Vorstellung von Landschaft ausgeht. Tatsächlich besitzt gerade die Landschaft in Dubuffets Bildern die Fähigkeit, sich in alles Mögliche zu verwandeln, so etwa auch in menschliche und tierische Körper, ausdrucksvolle Gesichter sowie in Objekte wie den Tisch. Daher überrascht es nicht, wenn der Künstler in Bezug auf seine charakteristischen Bildnisse erklärt: «Ich finde, Porträts und Landschaften müssen einander ähneln, das ist mehr oder weniger dasselbe; ich will Porträts, bei deren Beschreibung dieselben Mechanismen greifen wie bei der Beschreibung eines Landschaftsbilds, hier Falten und dort Furchen oder Wege, hier eine Nase, dort ein Baum, hier ein Mund und dort ein Haus.» Und in einer ähnlichen Perspektive betont er in Hinblick auf die Verwandtschaft von Landschaft und Gegenstand: «Ich bin überzeugt, dass jeder beliebige Tisch für jeden von uns eine Landschaft sein kann, die so gross und weit ist wie die Andenkette […]».
Voller Erfindungsgeist stellt Dubuffet dabei die gängigen Gesetze und traditionellen Gattungen der Kunst auf den Kopf und schafft sein ganz eigenes künstlerisches Universum.
Das Porträt, der weibliche Akt oder das Stillleben werden so zu lebendigen Landschaften von grösster Originalität, die sich ihrerseits wieder in etwas anderes transformieren können, das nur in der Fantasie des Künstlers entsteht. So schärfen Dubuffets rätselhafte Landschaften nicht nur das Auge für alltägliche und zugleich magische Strukturen des Bodens, sondern bringen auch unterirdische Formen und Figuren ans Licht, die dem oberflächlichen und allzu rationalen Blick verborgen bleiben. Diese Begeisterung für das Unsichtbare und Versteckte zeigt sich auch in seinen fremdartigen «Gehirnlandschaften», die innere, immaterielle Gedankenwelten auf plastische Weise darstellen. Von Dubuffets frühen, eher kleinformatigen Gemälden der 1940er-Jahre, zu denen das witzig-grünleuchtende Bocal à vache gehört, bis zu den späten Grossformaten der 1970er-Jahre wie die farbintensiv-chaotische Collage Mêle moments eröffnet sich in Dubuffets Schaffen ein einmaliger Kosmos sich abwechselnder Bilder. Darin wird der Landschaftsbegriff von den unterschiedlichsten Seiten her beleuchtet und mit den Möglichkeiten der Metamorphose gänzlich neu definiert. Der Höhepunkt seiner Verwandlungsidee findet sich in Dubuffets spektakulärem Gesamtkunstwerk Coucou Bazar von 1972/73, in dem Malerei, Skulptur, Theater, Tanz und Musik zu einer transformationsreichen Figurenlandschaft zusammenfinden. Darin lässt der Künstler eine einzigartige Parallelwelt entstehen, die uns zu erstaunen, zu verwirren und zu verzaubern vermag.
*Raphaël Bouvier ist Kurator der Ausstellung
«Jean Dubuffet – Metamorphosen der Landschaft»