Kunstmuseum Basel | 05.06.2021 – 26.09.2021
Zum ersten Mal zeigt Kara Walker (* 1969) Hunderte von Zeichnungen, die sie in den letzten 28 Jahren im Atelier unter Verschluss gehalten hat. In der ersten umfassenden Soloausstellung auf Schweizer Boden präsentiert das Kunstmuseum Basel diesen bisher nie gezeigten Korpus zusammen mit brandneuen Arbeiten
der weltbekannten Amerikanerin.
Zu Beginn der 1990er Jahre fällte Kara Walker als Master-
Studentin an der Rhode Island School of Design in Providence (RI, USA) zwei programmatische Entscheidungen: In ihrer Kunst wollte sie nun konsequent die Perspektive als Schwarze und als Frau einnehmen: «Alles ist eine schwarze Frau. Das war die Absicht.» Die Akzeptanz der eigenen Herkunft und der – subjektiven – Grenzen, die damit einhergehen, machte sie zu ihrer Stärke. Diese Haltung öffnete ihr den Blick auf die Geschichte des Kolonialismus, auf die Idee «Amerika» und natürlich die Sklaverei; indes nicht nur auf die Geschichte und ihre Bilder, sondern vor allem auf die paradoxen und widersprüchlichen Mechanismen von Machtstrukturen und deren Folgen bis heute. Das Akzeptieren des Selbst, und damit auch das Fragen nach der eigenen Identität, hatte Folgen für Walkers künstlerische Praxis und prägte die dritte grundlegende Entscheidung, das Aufgeben der Malerei.
Die Malerei auf Leinwand verband sie mit einer patriarchalischen und Weissen Tradition, zu der sie weder gehören wollte noch konnte. Es blieben die Zeichnung, das Arbeiten auf Papier und die Suche nach einem pointiert «schwachen» Medium, das sie in den Silhouetten fand. Der Schattenriss hatte eine bürgerliche und weibliche Tradition und wurde im 19. Jahrhundert in den USA auch von Schwarzen praktiziert. Er gilt bis heute als kunsthandwerkliches Verfahren und bescheidene Kunstform. Walker kombinierte Scherenschnitte zu wandfüllenden Panoramen oder gar zu ganzen Cycloramen, panoramaartigen Rundbildern, die ebenfalls im 19. Jahrhundert zur Unterhaltung des Massenpublikums erfunden wurden. Das Zurückgreifen auf die Silhouetten war keine Kapitulation, kein Rückzug, sondern eine Art Befreiungsschlag, Abgrenzung und selbstermächtigende Geste gegenüber der Tradition der europäischen Malerei und der Rhetorik der amerikanischen Malerei des 20. Jahrhunderts. Zum ersten Mal öffnet Kara Walker nun die Türen zu ihrem persönlichen Archiv. Sie gibt damit den Blick frei auf eine überwältigende und spektakuläre Fülle von über 600 Werken auf Papier aus den letzten 28 Jahren, die im Kunstmuseum Basel erstmals in einer umfassenden Einzelpräsentation zu sehen sind. Skizzen, Studien, Collagen, Scherenschnitte, mehrere Meter lange Papierrollen und ausgearbeitete grössere Formate, tagebuchartige Notizen, mit Schreibmaschine auf Karteikarten getippte Gedanken und Traumaufzeichnungen sind genauso Teil des Archivs wie gesammelte Zeitungsausschnitte und Werbematerial. Hinzu kommen fünfzig grossformatige Werke aus den beiden letzten Jahren, die im Hinblick auf die Ausstellung entstanden sind.
Angesichts der überbordenden Menge und Vielfalt des vorliegenden Materials wechseln sich beim Betrachten Faszination und Überforderung ab. Man könnte meinen, man ginge in der Ausstellung durch Walkers Atelier und zugleich durch ihre persönliche Geschichte. Die Diversität der ausgestellten Arbeiten, die nicht hierarchisch geordnet sind, gibt Einblick in Walkers Arbeitsweise. Beim Anblick der Werke stellt sich das Gefühl ein, der Künstlerin beim Zeichnen zuzuschauen. Viele Blätter haben den Charakter von Seiten aus Tage- oder Skizzenbüchern. Jeder Strich, jedes Wort hat eine berührende Unmittelbarkeit und Kraft. Humor und Wut, Freude und Frustration, Liebe und Hass, die ganze Palette an Emotionen kommt darin zum Ausdruck.
Die Spontaneität der Ausführung suggeriert ein Moment des Unaufschiebbaren, eines ungebändigten Bedürfnisses, sich auszudrücken und mitzuteilen. In einem Interview anlässlich einer Einzelausstellung im Metropolitan Arts Centre in Belfast 2014 beschrieb Walker diesen Impetus als «enormes Bedürfnis, weiter zu zeichnen, daraus beziehe ich meinen Wunsch, eine Künstlerin zu sein». Das Non-finito und die Ästhetik der Skizze sind auch Aspekte, die im Zusammenhang mit Walkers Identität als afroamerikanische Künstlerin verstanden werden können. Ihre zeichnerische Praxis impliziert das Unfertige, das Skizzierte, aber noch nicht Vollendete, einen Zustand des Dazwischen, den sie auch auf sich als Künstlerin und Mensch bezieht. Wiederholt äusserte Walker, dass sie sich den Rändern der Kunst oder der Gesellschaft zuzähle, dass eindeutige Identifikationen für sie nicht möglich seien, dass sie für afroamerikanische Künstlerinnen und Künstler nicht Aktivistin genug und auch in den patriarchalischen Strukturen des Weissen Establishments nie richtig angekommen und damit so «unfertig» wie ihre Zeichnungen sei.
Für eine Künstlerin wie Walker, die ihre Identität nicht zementieren, sondern deren Entstehung und Veränderung verstehen und hinterfragen will, ist die Zeichnung mit ihrer «aufgeschobenen Potenzialität» – wie sie es nennt – das Medium, das den idealen Freiraum bietet. Die Künstlerin hat sich selbst zum «mangelhaften» Charakter der Zeichnung und ihrer vorbereitenden Rolle geäussert: Zeichnen ist ein Prozess, ein Tanz von Skeptizismus und Zuversicht. Vielleicht ist das Zeichnen die Vorbereitung für ein dauerhafteres Ziel oder Ereignis. Zeichnen bereitet den Weg für die Zukunft. Vielleicht ist es eine Meditation über sein eigenes mangelhaftes Sein, seine Existenz als eine Reihe spontaner Entscheidungen, aneinandergereiht und dann selektiv ausgelöscht. Vielleicht verharrt die Zeichnung im Schwebezustand der Möglichkeit, niemals ein «echtes Gemälde» zu sein, doch bestrebt, gleich zu sein, Bleistiftstrich für Bleistiftstrich. ◀
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Beitrag von Anita Haldemann, Kuratorin der Ausstellung und Leiterin Kupferstichkabinett im Kunstmuseum Basel, im Katalog zur Ausstellung.