Bild der Originalausstellung «0,10», Petrograd, 1915

Malewitsch und die Russische Avantgarde

Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung  der Malerei
04.10.2015 – 10.01.2016
Fondation Beyeler, Riehen/Basel

Mit Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei setzt die Fondation Beyeler nach Venedig, Wien 1900 und Surrealismus in Paris ihre Ausstellungsreihe über Städte der Kunst fort.

Anna Szech, Assistenzkuratorin der Fondation Beyeler
Anna Szech, Assistenzkuratorin der Fondation Beyeler

Von Anna Szech

St. Petersburg – seit der Gründung 1703 und von 1712 bis 1918 die Hauptstadt Russlands – war immer schon für seine künstlerische Tradition berühmt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es zur Wiege der russischen Avantgarde. Im Winter 1915/16 fand hier Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei 0,10 (null zehn) statt, die für die radikale Bildsprache vieler Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts den Weg ebnete. In einer Privatgalerie stellten sieben Künstlerinnen und sieben Künstler rund 150 Werke aus. Prominente Vertreter der russischen Avantgarde, allen voran Kasimir Malewitsch und Wladimir Tatlin sowie Olga Rosanowa, Ljubow Popowa, Nadeschda Udalzowa und heute weniger bekannte Malerinnen und Maler nahmen teil. Der Titel der Ausstellung proklamierte das Ziel: Die Worte «letzte futuristische» sollten den Bruch mit Einflüssen westeuropäischer Kunst und gerade des italienischen Futurismus ankündigen. Die russischen Avantgardekünstler forderten die Entwicklung selbstständiger, vom Westen unabhängiger Kunststile. «Null-zehn» stellte die korrekte Aussprache des Titels sicher, denn 0,10 war keine mathematische Formel, sondern ein Code, dem eine Idee von Malewitsch zugrunde lag: Die «0» symbolisierte die Zerstörung der alten Welt, auch der Welt der Kunst, und zugleich einen Neubeginn; die «10» bezifferte die ursprüngliche geplante Zahl der Ausstellungsteilnehmer zurück, die sich dann auf 14 erweiterte.

Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1915
Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1915

0,10 sollte die Kunstwelt und das bürgerliche Publikum provozieren. Das wohlhabende Künstlerehepaar Iwan Puni und Xenia Boguslawskaja organisierte und
finanzierte die Ausstellung und stellte ihr «einen Skandal» als Motto voran. Die meisten Künstler zeigten kubofuturistische Werke: In Russland vereinte man diese beiden aus dem Westen übernommenen Kunststile, sodass – oft durch aus der russischen Folklore übernommene Farbgebung und Motive ergänzt – der Eindruck von kubistischer Zerlegung der Gegenstände und futuristischer Illusion der Bewegung entstand. Die Arbeiten schockierten das Publikum. So schrieb ein Kunstkritiker: «Ich befürchte, sie alle werden schlecht enden. Die Wände dieses Raumes zeigen das Ende der menschlichen Moral, gleich danach beginnen Raub, Mord und der Weg zum Schafott».  Als wirklich «skandalös» erwiesen sich jedoch die Werke von Kasimir Malewitsch und Wladimir Tatlin.

Malewitsch, der geistige Ideengeber von 0,10, zeigte hier 39 vollständig abstrakte, aus geometrischen Primärformen bestehende Bilder, für die er den Begriff «Suprematismus» kreierte, abgeleitet vom lateinischen suprematia: «Überlegenheit» oder «Oberhoheit». Mit seiner Malerei wollte er die Suprematie der Farben und die «reine Empfindung» in der Kunst postulieren. Zwar massen auch andere Künstler der Farbe eine wesentliche Rolle bei – man denke nur an die Farbpracht der Gemälde von van Gogh oder Matisse – doch war Malewitsch der erste, der Farben komplett vom Inhalt befreite. Im Unterschied zu Wassily Kandinsky, einem anderen Russen, der die Erfindung der Abstraktion für sich beanspruchte, malte Malewitsch nicht expressiv. Ordnung, organisierte Strukturen und Erschaffung eines neuen künstlerisches Alphabets, das den nachfolgenden Künstlergenerationen wie ein Werkzeugkasten zur Verfügung stehen sollte, waren sein Ziel.

In den Jahren 1915/1916 durchlief der Suprematismus verschiedene Stadien: Zu den ersten statischen Grundformen – dem Schwarzen Quadrat, dem Schwarzen Kreis oder dem Schwarzen Kreuz – in Schwarz-Weiss gemalt, kamen Bewegung und mehr Farben hinzu. Das suprematistische Bild par excellence blieb jedoch unbestritten das Schwarze Quadrat, von Malewitsch als die «ungerahmte Ikone meiner Zeit» bezeichnet. Um die Schockwirkung des Bildes auf das Publikum zu verstärken, hängte er das Bild in die obere Ecke seines Ausstellungsraumes, den Platz, der in russischen Häusern traditionell und ausschliesslich für Ikonen vorgesehen wurde. Malewitschs Botschaft wurde verstanden: Das «personifizierte Nichts», das «tote Quadrat» nannte man das Werk. Das Ende der Ära der gegenständlichen Malerei wurde öffentlich verkündet.

Wie Malewitsch zeigte Tatlin in der 0,10 völlig abstrakte Werke, vertrat jedoch eine entgegengesetzte Meinung, in der Kunst solle es nicht um «Empfindungen», sondern um «haptische Qualitäten» gehen. Seit 1913 fertigte er aus «kunstfremden» Materialien wie Asphalt, alten Möbelstücken oder Abfall abstrakte dreidimensionale Kompositionen an, die er als «Konter-Reliefs» bezeichnete, was auf die konträren, gegenaneinander strebenden Kräfte in einem Werk deutete. Tatlins in der 0,10 erstmals gezeigtes Eck-Konterrelief wurde ebenfalls in der Ecke des Raumes angebracht. Tatlin bedeckte die Wände mit weissem Papier, um seiner Arbeit schwebenden Charakter zu verleihen. Mit diesem revolutionären Werk «befreite» er Skulptur vom klassischen Sockel und vollzog damit den Schritt zur modernen Rauminstallation. Diese sowie später von ihm entwickelten Skulptur- und Architekturmodelle, die eine Bewegung erzeugten, verliehen ihm den Status des Begründers des europäischen Konstruktivismus und kinetischer Kunst.

Im Winter 1915/1916 tobte in Europa der Erste Weltkrieg. Obwohl die rund vier Wochen dauernde Ausstellung fast 6000 Besucher anzog und in der lokalen Presse reich beleuchtet wurde, konnte sie europaweit kaum Resonanz erfahren. Die Informationen darüber sickerten nach und nach in Form von Erzählungen, Erinnerungen und durch den Austausch mit russischen Künstlern am Bauhaus in den Westen durch. 1917 brach in Russland die Oktoberrevolution aus, die die Geschicke des Landes für immer veränderte. Begrüssten die Bolschewiken zunächst die neuen künstlerischen Mittel als Werkzeuge für die Massenpropaganda, erfuhren revolutionäre Bestrebungen russischer Künstler ab 1930 ein jähes Ende, die stalinistische Kunstdoktrin hiess nun Sozialistischer Realismus. Die Kunst der Avantgarde blieb in der Sowjetunion bis in die 1980er-Jahre verboten. Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei 0,10, die einen Wendenpunkt in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts markierte, wurde zu einem modernen Mythos.

Diesen Herbst feiert die Fondation Beyeler das 100. Jubiläum dieser legendären Schau. Erstmals sind die erhalten gebliebenen Werke vervollständigt durch stilistisch ähnliche Arbeiten derselben Künstlerinnen und Künstler aus den Jahren 1914 bis 1916 sowie dokumentarisches Material zu sehen. Selten geliehene Exponate stammen aus 20 russischen Museen, darunter dem Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg und der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau. Weitere Leihgeber sind: Stedelijk Museum, Amsterdam; Centre George Pompidou, Paris; State Museum of Contemporary Art, Thessaloniki; Museum Ludwig, Köln; Art Institute, Chicago, und das MoMA, New York.