Matisse – Kunst auf der (Scheren-)Spitze

Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 23.07.2006 | Fondation Beyeler

«Mit der Schere zeichnen. – Frisch in die Farbe hineinschneiden erinnert mich an den direkten Meisselschlag des Bildhauers». Henri Matisse, «Jazz», 1947

Von Daniel Kramer

Henri Matisse, Les bêtes de la mer, 1950 © Pro Litteris
Henri Matisse, Les bêtes de la mer, 1950 © Pro Litteris

Jazz» nennt Henri Matisse seine Publikation, die er 1947 veröffentlicht hat und welche im Foyer der Fondation Beyeler den Auftakt zur grossen Matisse-Ausstellung bildet. Mit «Jazz» rücken die Scherenschnitte ins Zentrum von Matisse’ Arbeit. Die Papiers découpés setzen sich von der traditionellen Ölmalerei ab wie Jazz von der klassischen Musik. Sie überraschen durch neuartige Klänge, durch ungewohnte Harmonien, Rhythmen und insbesondere durch gewagte Farb- und Formimprovisationen. Matisse’ Scherenschnitte sind von unerhörter Frische. In scheinbarer Leichtigkeit lässt der Künstler die knallbunten Papierstücke aufeinander prallen. Die Farben werden nicht mehr ineinander vermischt, sondern bleiben hart nebeneinander stehen. Die Schnittkante übernimmt, was früher der Zeichenstift geleistet hat. In rasantem Tempo fährt Matisse mit der Schere in die bemalten Papierbögen. Es gibt keine Vorzeichnung, die Schere holt sich die Farbbrocken aus dem Papier heraus. Zeichnen mit der Schere nennt Matisse dieses Verfahren:
«Der Scherenschnitt erlaubt es mir, unmittelbar in die Farbe zu zeichnen. Für mich bedeutet dies eine Vereinfachung. Statt die Kontur zu zeichnen und die Farbe darin zu platzieren, zeichne ich jetzt direkt in die Farbe… Diese Vereinfachung garantiert mir eine Genauigkeit in der Vereinigung zweier Mittel, die zu einem einzigen werden… Dies ist kein Ausgangspunkt, sondern ein Endpunkt.»
Nach dem Herausmeisseln folgt das Anordnen der Farbformen auf Papier und Leinwand – das Komponieren. Die einzelnen Elemente werden mit Stecknadeln provisorisch fixiert. Erst wenn die definitive Lösung gefunden ist, wird das Ganze aufgeklebt.
Das auf der oben abgebildete Werk «Les bêtes de la mer» (1950) erinnert noch an die Bildseiten von «Jazz». Der grossformatige Papierschnitt wirkt verspielt und – im Gegensatz zu «Nu bleu I»von 1952 – ausgesprochen erzählerisch. Die «Spielfelder» bzw. Meerestiefen mit den verschiedenen Farb- und Formimprovisationen sind turmartig übereinander geschichtet. Erst mit der Zeit entdecken wir über die scharf geschnittenen Grenzen hinweg Korrespondenzen und Zusammenklänge. So die blaue Spiralform links oben und rechts und die wundervoll aufschwingenden weissen, blauen und schwarzen Bänder im oberen und unteren Bildbereich. Trotz des Titels werden nicht in erster Linie «Les bêtes de la mer» zum Bildthema gemacht. Nicht Fische oder Schlangen werden gezeigt, sondern das Gleiten und Schlängeln, das Wellen, Hochschiessen und Krabbeln. Matisse’ Komposition bleibt weitgehend abstrakt. In der Transparenz des Wassers werden Bewegungsmotive und Farbklänge festgehalten. Matisse’ Farbformen haben die Fähigkeit, sich zu verwandeln. Sie sind mehrdeutig. Das ist ihre Qualität. Sie verweisen in ihrer knappen, verdichteten Form auf verschiedenste Inhalte. Auch Matisse’ Urpflanze, die im tiefen Meeresgrund liegende Alge, erfährt – genau wie die sitzende, liegende oder stehende Frau – immer wieder überraschende Metamorphosen. Die «Weisse Alge» auf rotem und grünem Grund (1947, Abb. S.19) wird bei näherem Hinsehen zur Tänzerin, der «Blaue Frauenakt I» (1952) verwandelt sich in ein abstraktes, lichtvolles Ornament.

Henri Cartier Bresson, Henri Matisse, Villa Le Rêve, Vence um 1944
Henri Cartier Bresson, Henri Matisse, Villa Le Rêve, Vence um 1944

Keine Erzählung: Ein Klang «Nu bleu I»(1952) besteht nur aus blauem Papier und Zwischenräumen. Die blauen ineinander verschlungenen Papierstreifen und die lichterfüllten Zwischenräume erzeugen eine subtile Räumlichkeit und einen wundervollen Klang. Matisse, 83 Jahre alt, bringt in diesem aussergewöhnlichen Werk nochmals alles ins Spiel, was ihn sein Leben lang beschäftigt hat: die Farbe, das Licht, die Form, den Raum und natürlich die Frau. Er hat alles Überflüssige weggeschnitten. Am Schluss seines Lebens gelingt es ihm, alle formalen und inhaltlichen Probleme mit einem einzigen Schlag zu lösen. Die Papiers découpés bedeuten das Ineinssetzen von Zeichnung, Form und Farbe.
Der «Blaue Frauenakt I» hat das Wasser und den freien Himmel in sich aufgenommen und versetzt den Raum in delikate Schwingungen. Mit einer einzigen Bewegung hat Matisse die Linie zur Farbe und den Umriss zur Oberfläche gefügt. «Nu bleu I» ist ein bezauberndes Ornament, ein Bildzeichen, das sofort erfasst wird. Keine Erzählung (keine krabbelnden Meerestiere) – sondern ein einziger Klang. Eben: Einklang.
Nach seinen zahlreichen Farb- und Formimprovisationen, nach all den tollkühnen Experimenten mit der Schere hat sich Matisse im neuen Medium des Scherenschnitts noch ein letztes Mal dem alten Thema der sitzenden Frau zugewandt. Seit Anbeginn hat Matisse Frauenakte gemalt, gezeichnet, modelliert. Immer wieder hat er sich bemüht, das Thema neu zu fassen, die Frau im Innenraum – das Hauptthema der Riehener Ausstellung – neu ins Bild zu setzen: bekleidet, unbekleidet, anonym, als Porträt, als Tänzerin, als Odaliske. Die Frau im Innenraum – das «Frauenzimmer» – ist in diesen Inszenierungen manchmal mehr Zimmer, manchmal mehr Frau, aber immer EIN BILD. Auch die Odaliske, die türkische Haremsdame, ist für Henri Matisse keine erotische, sondern eine malerische Eskapade. Eine Fiktion, die Bildrealität wird. Odaliske heisst «Frau des Zimmers» oder eben: «Femme à l’intérieur».
Matisse malt keine schönen Frauen, sondern schöne Bilder. Achten Sie in der Ausstellung darauf, wie er alle herkömmlichen Schönheitsmerkmale unterdrückt: Es werden kaum Haare oder Hände oder Füsse gemalt. Auch das Gesicht seiner bildhübschen Modelle und insbesondere die Augen werden kaum je ausgeführt. Der Augenkontakt soll nicht mit dem Modell, sondern mit dem Bild aufgenommen werden. Nur selten geht es um das individuelle Antlitz der Frau, immer aber um das Gesicht der Malerei. Vom schönen, beglückenden Modell zur schönen, beglückenden Malerei findet eine geheimnisvolle Übertragung statt. Wie Matisse dieses Kunststück schafft – von «La liseuse» (1895) bis «Nu bleu I» (1952), zeigt die Ausstellung in der Fondation Beyeler aufs Vortrefflichste.

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