Max Ernst: Der Künstler, der sich nicht finden wollte

Ein Maler ist verloren, wenn er sich findet», bemerkte Max Ernst (*1891 in Brühl – †1976 in Paris) in einem berühmten Ausspruch. Tatsächlich gehört der Künstler zu den vielseitigsten und wechselhaftesten der Moderne. Immer wieder hat sich Max Ernst im Laufe seines Lebens und Werks neu erfunden und dabei fortwährend mit neuartigen Techniken wie etwa der Collage, Frottage oder Dekalkomanie experimentiert. So entstand ein einzigartiges Gesamtwerk aus (alb-)traumartigen Bildern, mysteriösen Landschaften und fantastischen Kreaturen, das sich jeder klaren stilistischen Definition entzieht und dessen Entwicklung vom bewegten Leben und den wechselnden Aufenthaltsorten des Künstlers in Europa und Amerika mitgeprägt wurde.

Von Raphaël Bouvier *

Nachdem Max Ernst zunächst als revoltierender Dadaist in Köln gehandelt hatte, zog der junge Künstler 1922 nach Paris, wo er bald zu einem der Pioniere des Surrealismus wurde. Zweimal wurde er während des Zweiten Weltkriegs als feindlicher Ausländer interniert und kam wieder frei. 1941 musste er in die USA fliehen (zunächst nach New York, von wo er danach nach Sedona, Arizona, weiterzog), wo er neue Anregungen fand und zugleich für die neue Generation amerikanischer Künstler wichtige Impulse gab. Ein Jahrzehnt später kehrte er in ein vom Krieg zerstörtes Europa zurück, wo der einst geschätzte Max Ernst vergessen schien, um danach als einer der grossen Künstler des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt zu werden. Um der unerhörten künstlerischen Vielfalt von Max Ernsts Werk gerecht zu werden, versammelt die grosse Retrospektive in der Fondation Beyeler über 160 Gemälde, Collagen, Zeichnungen, Skulpturen und Druckgrafiken, die anhand zahlreicher Hauptwerke alle Schaffensphasen des Künstlers präsentieren. So erhält der Besucher in der Fondation Beyeler zum ersten Mal in der Schweiz seit Max Ernsts Tod die Gelegenheit, das faszinierende Werk dieses Jahrhundertkünstlers in seinem gesamten Reichtum zu erleben.

Max Ernsts facettenreiches Schaffen –
ein Einblick in die Ausstellung

Nach seinen Anfängen, in denen Max Ernst Gemälde und Aquarelle in einem expressionistisch-futuristischen Stil malt, gründet er 1919 zusammen mit Hans Arp und Johannes Theodor Baargeld die Kölner Dada-Gruppe. In rebellischer Abkehr von der Tradition entstehen dabei zahlreiche Werke, welche sich auf ironische Weise mit dem menschlichen Versagen während des kurz zuvor zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs auseinandersetzen. Dafür verwendet Max Ernst völlig neuartige künstlerische Methoden und Techniken wie Übermalung und Collage, deren Prinzip er auch später ständig weiterführt und auf Malerei und Skulptur überträgt.
Der Umzug nach Paris 1922 leitet zugleich eine neue, bahnbrechende Phase im Werk des Künstlers ein und führt zu einer Rückkehr zur Malerei. In Frankreich schafft der Künstler neuartige wie aus den Tiefen der Seele auftretende, (alb-)traumhafte Bilder, die sich durch ihre Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit auszeichnen und Max Ernsts Beschäftigung mit der Psychoanalyse bekunden. In dieser frühen surrealistischen Periode entsteht auch das als Wandbild konzipierte Au premier mot limpide von 1923, das trotz seiner kompositorischen Nüchternheit durch seine mysteriöse und magische Ausstrahlung besticht. Wenige Jahre später realisiert Max Ernst das in seinem antiklerikalen und antibürgerlichen Witz bis heute provokante Gemälde La Vierge corrigeant l’enfant Jésus devant trois témoins: André Breton, Paul Eluard et le peintre. In den 20er-Jahren entwickelt Max Ernst aber auch neuartige Techniken wie Frottage und Grattage, die etwa in seinen unheimlichen Wäldern Anwendung finden. Zur gleichen Zeit entstehen auch seine grandiosen Collageromane wie La femme 100 têtes, die in ihrer technischen Perfektion ihresgleichen suchen.

Max Ernst, La nature à l’aurore (Chant du soir), 1938
Max Ernst, La nature à l’aurore (Chant du soir), 1938

Surrealistische Leitthemen wie die Naturverwandlung steigern sich in Max Ernsts Dschungelbildern der 30er-Jahre zu Visionen von Bedrohung und Endzeit, wie im romantisch-düsteren La nature à l’aurore von 1938. Die Beschäftigung mit den Abgründen der Menschheit und dem Krieg äussert sich im imposanten L’ange du foyer, in dem das monströse Wesen den kriegerischen Wahn jener Zeit verkörpert.
Schliesslich führen Max Ernsts im Abklatschverfahren entstandene Dekalkomanien der 40er-Jahre – etwa Napoleon in the Wilderness mit seiner sinnlich-graziösen, wie aus einem Korallenmantel entwachsenen Frauengestalt – die Weiterentwicklung des Surrealismus im amerikanischen Exil vor Augen. In den USA entstehen auch Max Ernsts sogenannte Oszillations-Bilder wie etwa das bizarre, politisch brisante La planète affolée von 1942. Deren Linienstrukturen gehen auf das Hin- und Herschwingen einer durchlöcherten, mit flüssiger Farbe gefüllten Konservendose zurück und muten wie Vorwegnahmen von Jackson Pollocks Action Painting an. In Amerika realisiert der Künstler aber auch einen Grossteil seiner wichtigsten Skulpturen, darunter The King Playing with the Queen – ein Glanzstück aus der Sammlung Beyeler – sowie seinen imposanten Capricorne, für den der Künstler auf vorgefundene Alltagsobjekte wie Milchflaschen und Eierschachteln zurückgreift und dadurch die Monumentalität der Bronzeplastik durch Verspieltheit und Witz durchbricht.
Max Ernsts Schaffen erweist sich als ein riesiger Fundus an Ideen und Experimenten, sein Leben und Werk erscheinen wie eine fortwährende Erkundung neuer Wege und Möglichkeiten – der Künstler ist ein Suchender, der mit weit offenen Augen durch die Welt vagabundiert und in der Natur und im Menschen unentwegt Neues, Fremdartiges, Erschreckendes und Wundersames gleichermassen entdeckt.

Max Ernst
Retrospektive
26.05.2013 – 08.09.2013
Fondation Beyeler, Riehen

*Raphaël Bouvier
Dr. Raphaël Bouvier (1977) studierte Kunstgeschichte und Romanische Philologie in Basel und Bochum. Seit Januar 2012 ist er Kurator der Fondation Beyeler, an der er jüngst die Ausstellungen «Collection Renard» sowie «Max Ernst. Retrospektive» kuratierte. Raphaël Bouvier hat über moderne, zeitgenössische und manieristische Kunst sowie Erinnerungskultur publiziert.

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