Max Ernst – Im Garten der Nymphe Ancolie
12.09.2007 – 27.01.2008 | Museum Tinguely Basel
Von Guido Magnaguagno*
Das Schlafzimmer des Meisters ist ein mirakulöses kleines Aquarell des jungen Künstlers. Auf Holzdielen in waghalsiger Perspektive und extrem vergrösserten Raumverhältnissen tummeln sich die Fabelwesen seiner Träume. Als es mir kürzlich vergönnt war, das Geburtshaus Max Ernsts in Brühl bei Köln zu besichtigen und im Dachstock die engen Kinderzimmer des vielköpfigen Nachwuchses, fiel mir auch jene Zeichnung ein, welche Max Ernst 1934 dem jungen Andres Giedion auf einem Besuch im Zürcher Doldertal widmete. Auf demselben Dachboden entschlüpft darauf der Vogelobre Hornebom einem Riesenei, die Schnäbel sind ihm mit dem Brieföffner von Mutter Carola Giedion-Welcker in Frottage-Technik geschliffen. Max Ernst, Der Vogelobre Hornebomm, ca. 1934Auf den Namen «Hornebom» hörte dabei ein rosa Kakadu, Max’ «bester Freund», der im Elternhaus Anfang 1906 in jener Nacht starb, als seine Schwester Loni auf die Welt kam. Von da an wurden Vögel Max Ernsts Inkarnationen. Dass «Hornebom» dabei zum vorderhand «obersten» der Vögel avancierte, hatte Max Ernst einem Huldigungsgedicht seines Kölner Dada-Mitstreiters Johannes Theodor Baargeld zu verdanken. Ende der Zwanzigerjahre löste ihn indessen «Loplop» in verschiedenster Vogelgestalt ab, und 1931/32 schuf der Künstler eine wegweisende Serie von Collagen unter der Affiche: Loplop présente … Darunter befindet sich auch ein Blatt, das als Bild im Bild auf der Staffelei des Künstlers einen Blütenzweig präsentiert, hinter dem sich unschwer erkennbar ein feminines Wesen versteckt hält. Von ihm sind als lineare Gebilde zwei Stöckelschuhfüsse und zwei Hände sichtbar, wobei die eine Hand eine Art Schote hält (oder streichelt?). Max Ernst, Loplop présente …, 1932 Als nun der Künstler auf Vermittlung von Siegfried Giedion im Jahr 1934 den Auftrag für ein grosses Wandbild im neu umgebauten Zürcher Dancing «Corso» erhielt, griff er – im Jahr seiner Liaison mit Meret Oppenheim – wohl nicht ganz absichtslos auf diese Collage zurück. In riesig auf 4.15 x 5.31 m vergrösserten und ins Breitformat gezogenen Massstab fügte nun der bereits berühmte und umschwärmte Maler dem fleischigen Blüten- und Blätterwerk eines australischen Tropenbaums an Arp gemahnende oder seine eigene Bemalung von Maloja-Steinen aufnehmende Formen hinzu. Gleichfalls verlängerte er die Blätter zu Flügeln, um so ein insgesamtes «Gefieder» zu evozieren. Die Stöckelschuhe abgestreift, vergnügt sich nun die Nymphe Ancolie, welcher der Dada-Wort-Akrobat das «Mel» abgezwickt hat, im Blätterwerk mit dem von oben einfallenden Loplop. Noch verweist der Name der «Nymphomanin» auf die Akelei, die Blume der Melancholie, indessen knistert und zwitschert es im Blätterwerk sexuell, wie einiges organisches Zubehör in der oberen Bildzone andeutet. Diese Lesart eines lange als blosse Dekoration missverstandenen Wandbildes drängt sich umso mehr auf, als die Restaurierung des Werks nicht allein eine viel hellere, schwebende Farbigkeit freilegt, sondern auch die versteckten Inhalte. Vor Ort können die Ausstellungsbesucher die Verwandlung des Bildes von einer Bildtafel zur nächsten verfolgen und somit die Geburt und Entdeckung eines verborgenen Meisterwerks. Die Metamorphosen des Pflanzlichen ins Menschliche und die Evokation von Paradiesen und Liebesgärten gehören zu den zentralen Themen und Wunschbildern eines Künstlers, der wie wohl kein anderer im 20. Jahrhundert das Unbewusste erforschte. Seine Bildtechniken, wie vor allem das Prinzip Collage, seine Bildromane, die Frottage und Décalcomanies bescheren der Kunst eine Fülle von Bildfantasien, einen unerhörten Assoziationsreichtum, der das Reich der Sinne parallel zu den Erkundungen Sigmund Freuds oder André Bretons auslotet. Zwischen Ödipus und Gradiva, dem Sumpfengel und der Nymphe Echo, Apoll und Daphne.
Der wechselhaften Biografie des deutsch-französischen Künstlers (1891–1976) und seinen beiden Kriegserfahrungen und Exilen entsprechend, vergnügt er sich aber nicht nur in erotischen Gefilden, sondern registriert die Gewaltausbrüche der Zeitgeschichte seit den politischen Kölner Dada-Jahren ebenso. Immer wieder bevölkern Chimären und Barbaren seine Bilderwelt, und schon kurz nach den Aufenthalten in den Gärten der Ancolie und Hesperiden locken die «Flugzeugfallen«, überwuchern Urwälder ganze Städte und verschlingen Fabelwesen. Das Böse und der Tod lauern fast permanent hinter der Schönheit.
So werden in seinem Werk nicht allein seine persönlichsten Wunschträume sichtbar, sondern ebenso die Unwägbarkeiten und Verdunkelungen der Zeitgeschichte. Und als dritte Ebene entwickelt er seit seiner «Histoire Naturelle» die Bildwelt einer Erdgeschichte, in der er die vegetabile Natur als ewige und bestimmende Lebenskraft feiert.
Unsere thematische Ausstellung mit dem Glücksfall der Wiederentdeckung und Restaurierung von Pétales et jardin de la nymphe Ancolie aus dem Jahr 1934 lässt zu, das Werk des Künstlers aus einem innersten Kern aufzufächern. Sie zeigt chronologisch die Genese eines Bildthemas auf, seine Hochblüte und seine Verästelungen: Metamorphosen der Lust und der Gewalt. Wir verdanken diese seit 1963 (!) erste Schweizer Werkschau einer Vielzahl seltenst ausgestellter privater Leihgaben und berühmter Museumsstücke, der inspirierten Ägide des führenden Max-Ernst-Kenners Werner Spies, unserer Konservatorin Annja Müller-Alsbach und einem beflügelnden inneren Ansporn, von dem auch Sie sich leiten lassen mögen. Lassen Sie sich vom Meister in sein Schlafzimmer entführen und erlaben Sie sich unbekümmert wie Loplop am Nektar im Garten der Nymphe Ancolie.
* Guido Magnaguagno ist Direktor des Museum Tinguely
Die Restaurierung der Dauerleihgabe des Kunsthaus Zürich an das Museum Tinguely, «Pétales et jardin de la nymphe Ancolie» von Max Ernst, wird unterstützt durch das Museum Tinguely, ein Kulturengagement von Roche, und die Stiftung BNP Paribas Schweiz.