Kunstmaschinen – Maschinenkunst – Das Museum wird zur Produktionshalle
05.03.2008 – 29.06.2008 | Museum Tinguely Basel
Von Hans-Christian von Herrmann*
Schon die Poetik des Aristoteles sah die Aufgabe der Kunst darin, die Aufmerksamkeit vom «Was» auf das «Wie» zu lenken. Was in der Tragödie geschah, wussten alle Athener, da der Stoff dem Mythos entnommen war. Poetisch einzig entscheidend war, wie der Dichter die vorgefundenen Handlungselemente angeordnet hatte. Als Jean Tinguely sich zu Beginn der fünfziger Jahre den abstrakten Gemälden eines Malewitsch oder Kandinsky zuwandte und deren Formen als Bausteine für seine automatischen Reliefs aufgriff, war seine Vorgehensweise eine ganz vergleichbare. Die kanonisch gewordene Kunst der Moderne wurde hier zum Ansatzpunkt einer künstlerischen Intervention, die dem Betrachter statt fertiger Bilder einen endlosen Kompositionsprozess präsentierte. Ordnung als etwas Bewegliches, Veränderliches – das ist das Thema der automatischen Reliefs, die Pontus Hultén anlässlich von Tinguelys erster Ausstellung 1954 in Paris als «meta-mechanisch» bezeichnete.
Meta – mit diesem in den Titeln seiner frühen Arbeiten häufig anzutreffenden Präfix (Méta-Malevitch, Méta-Kandinsky, Métamorphe) ist Tinguelys Maschinenkunst sehr genau beschrieben, fordert sie doch auf, einen Schritt gegenüber dem, was sie zeigt, zurückzutreten und darauf zu achten, wie sie das, was sie aufgreift, zusammenfügt.
Zuerst sind es farbige Kreise und Vielecke, die, motorisiert, eine unüberschaubare Zahl von Konstellationen bilden. Später sind es Schrott und nutzlos gewordene Alltagsgegenstände, die sich zu grotesken Maschinen verketten. Thema wird nun das Maschinelle selbst, das sich hier ostentativ aller Benutzerfreundlichkeit entzieht, um stattdessen einer poetischen Praxis Raum zu geben, in der Funktionalität und Dysfunktionalität keinen Gegensatz mehr bilden. Ihr erklärtes Ziel ist eine Befreiung der Maschinen von der Arbeit zum Spiel. «For me», so Tinguely, «the machine is above all an instrument that permits me to be poetic. If you respect the machine, if you enter into a game with the machine, then perhaps you can make a truly joyous machine – by joyous, I mean free.»
Als zum Spiel befreite Maschinen lassen sich auch die Zeichenautomaten begreifen, die Tinguely ab 1959 konstruierte und die als Méta-matics bekannt geworden sind. Ihr buntes Gekritzel parodiert ganz offensichtlich die tachistische oder informelle Kunst der Zeit. Am 1. Juli 1959 wurden sie, begleitet von einer Werbekampagne, die Teil des Ausstellungskonzepts war, in der Galerie Iris Clert in Paris präsentiert. «libérez-vous en créant vous-même vos œuvres d’art avec les machines à peindre ‚meta-matics’ de tinguely», war auf den vorab verteilten Flugblättern zu lesen. Bei der Eröffnung war auch Marcel Duchamp zugegen, der sich nicht scheute, sich auf das Spiel mit den Maschinen einzulassen. Sein Beitrag zur automatischen Bilderzeugung blieb dabei, gemäss der Gebrauchsanweisung, auf die Einstellung der Motorgeschwindigkeit und die Wahl des farbigen Zeichenstifts beschränkt.
Sechs Jahre später erschien in der Juni-Ausgabe des amerikanischen Playboy ein Artikel mit dem Titel «Portrait of the machine as a young artist». Der Verfasser John R. Pierce war damals Leiter der Communications Sciences Division an den Bell Laboratories in Murray Hill, New Jersey. Der Text ist ein deutlich ästhetisch akzentuierter Bericht über die amerikanische Forschung zur computergestützten Generierung von Texten, Tönen und Bildern. Zwei Abbildungen finden sich auf der ersten Seite: eine pointillistische Computergraphik aus den Bell Labs und eine mit einer Méta-matic erzeugte bunte Strichzeichnung. Das Blatt hing damals, wie Pierce anmerkt, in seinem Büro in Murray Hill, versehen mit der handschriftlichen Widmung: «Pour John Pierce, amicalement, Jean Tinguely, Avril 1962.»
Auch wenn Tinguelys Méta-matics, technisch gesehen, nichts mit den Computern der Bell Laboratories zu tun haben, hatte Pierce gute Gründe, beide Bilder nebeneinander zu rücken. Zum einen besass die Forschungsarbeit in seiner Abteilung in jenen Jahren tatsächlich deutlich spielerische Züge, da man sich auf diese Weise am ehesten technische Innovationen versprach. Zum anderen lassen sich die Méta-matics als Vorboten einer neuen Synergie von Bild und Maschine begreifen, wie sie in den sechziger Jahren durch die Verschaltung von Computern mit Kathodenstrahlröhren und automatischen Zeichentischen möglich werden sollte.
Die Computergraphik, die dem Artikel von Pierce beigefügt ist, war im Rahmen wahrnehmungspsychologischer Experimente und somit gänzlich ohne künstlerische Absicht entstanden. Dennoch hatte der verantwortliche Wissenschaftler Bela Julesz im April 1965 mit solchen Bildern eine Ausstellung in der New Yorker Howard Wise Gallery bestritten, gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Noll, der heute (wie in Deutschland die Mathematiker Frieder Nake und Georg Nees) als Pionier der künstlerischen Computergraphik gilt. Was Tinguely zuvor mit gänzlich mechanischen Mitteln unternommen hatte, betrieb der Elektroingenieur Noll nun mit Hilfe von Computertechnik: er liess die Bildformen der abstrakten Moderne aus maschinellen Prozessen hervorgehen. Was Tinguelys Méta-matics mit Nolls Computerprogrammen verbindet, ist ihr produktiver oder poetischer Gebrauch des Zufalls. Während jene durch das unkalkulierbare Zusammenwirken ihrer mechanischen Bauteile immer neue Strichkombinationen erzeugten, verwendeten diese arithmetischen Generatoren für Zufallszahlen. Insofern lässt sich sagen, dass die parodistisch-spielerische Sachlichkeit von Tinguelys Méta-matics in den Computergraphiken von Michael Noll noch einmal – und nunmehr mathematisch-algorithmisch – überboten wurde. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass Tinguelys Zeichenmaschinen abstrakte Graphiken aus einer Mischung von wiederholendem Automatismus und unvorhersehbarer Variation hervorgehen liessen, womit sie – im Moment des beginnenden Informationszeitalters – den historisch-technischen Raum mechanischer Zwangsläufigkeit verliessen. Auf diese Weise war es ihnen möglich, sowohl unseren Umgang mit Technik als auch unseren Umgang mit Kunst zu irritieren.
* PD Dr. Hans-Christian von Herrmann ist Hochschuldozent für Kulturtheorien digitaler Medien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und zur Zeit Visiting Professor an der New York University