Mika Rottenberg, NoNoseKnows, 2015 (Filmstill)

Mika Rottenberg – Antimatter Factory

Museum Tinguely
23.03.2024 – 01.09.2024

Roland Wetzel ist Direktor des Museum Tinguely und Kurator der Ausstellung
Roland Wetzel ist Direktor des Museum Tinguely
und Kurator der Ausstellung

Von Roland Wetzel

Wer zum ersten Mal Videofilme und -installationen von Mika Rottenberg sieht, hat das Gefühl, inmitten von Farbexplosionen zu schweben. Es ist wie halluzinierende, animierte Malerei, die nicht nur retinale Wirkung hat, sondern alle Sinne anspricht. Besonders inszeniert ist dies in Rottenbergs neuer Mehrkanal-Videoinstallation Spaghetti Blockchain von 2019. Das Phänomen nennt sich «Autonome sensorische Meridianreaktion» (ASMR), mit der über Bild und Ton multisensorische Reaktionen erzeugt werden. Youtube liefert mit Tausenden dieser Trigger-Filmchen Anschauungsmaterial, wobei die Toneffekte Entscheidendes zur Wirkung beitragen.

Inspiriert ist Spaghetti Blockchain durch einen Besuch bei «Arts at CERN» in Genf, das den kreativen Austausch zwischen Künstlern und Physikerinnen befördern will. Im Zentrum des Interesses stand das Forschungslabor, an dem Experimente zur Antimaterie durchgeführt werden. Ergebnis dieser kreativen Kollision ist ein Mehrkanalfilm, der den Austausch von Energien, Objekten und Menschen zum Thema hat, das Mikroskopische mit dem Makroskopischen verbindet und Materie und Energie im Medium des Films wie durch Zauberei und mit einem Augenzwinkern durch Zeit und Raum verschiebt. Damit stehen wir mitten in Rottenbergs künstlerischem Kosmos. Antimatter Factory, der Titel der Ausstellung am Museum Tinguely, zitiert den Namen dieser Forschungsabteilung am CERN in Genf. Eine Fabrik, die Antimaterie produziert, könnte auch eine Umschreibung sein für Tinguelys Maschinenskulpturen, die Poesie statt verwertbarer Materie kreieren und so die industrielle Produktionslogik zwischen Mensch und Maschine persiflieren. Rottenbergs ironischer Blick auf die wundersamen Verknüpfungen der Warenproduktion führen diese Thematik weiter. Deshalb passen ihre Arbeiten besonders gut in unser Museum. Mit ihrem «sozialen Surrealismus» schafft sie Parabeln für die Entfremdung, die schon Karl Marx in der «Entfremdung der Menschenwelt durch die Verwertung der Sachenwelt» diagnostizierte. Was ihre Kritik an unserer kapitalistischen Warenproduktion noch potenziert, ist deren zunehmende Geschwindigkeit, der weltumspannende freie Fluss von Waren (und nicht von Menschen) und die Digitalisierung, die Dinge von ihrer Repräsentation entkoppelt. Daraus folgt ein weiteres Thema Rottenbergs, die Frage nach der Handlungsmacht von Dingen und Materialien und der ihnen innewohnenden Spiritualität.

Mika Rottenberg, Cosmic Generator, 2017 (Filmstill)
Mika Rottenberg, Cosmic Generator, 2017 (Filmstill)

Die Überblickspräsentation stellt eine umfassende Werkauswahl ihrer Videoarbeiten und -installationen vor, darunter NoNoseKnows, die 2015 für die Biennale in Venedig entstand. Diese zeigt die industrielle Perlenproduktion in einer Fabrik im Südchinesischen Zhuji von der Einpflanzung des Fremdkörpers in Austern, die diese mit Perlmutt umhüllen, bis zur «Ernte» und Selektion. Kombiniert ist dieser Ort über Räderwerk und Transmissionsriemen mit einem Arbeitsplatz, an dem eine Frau durch Blumensträusse zum Niesen von Nudelgerichten angeregt wird, während sich ihre Nase kontinuierlich verlängert. Cosmic Generator entstand für die Skulptur Projekte Münster 2017. In dieser Videoinstallation verbindet Rottenberg ein chinesisches Restaurant an der mexikanisch-amerikanischen Grenze mit dem berauschenden Überfluss an farbigen Plastikgegenständen des Marktes in Yiwu in China. Beide Orte liegen im Video nur wenige «Jump Cuts» durch ein Röhrensystem auseinander. Neben weiteren Videoarbeiten, die fast 20 Schaffensjahre umfassen, zeigen wir eine Auswahl kinetischer, teils interaktiver Skulpturen sowie neue Experimente mit rezykliertem Plastik, die ein Kunstvermittlungsprojekt in der Ausstellung umfassen.

Speziell für die Ausstellung entsteht eine Brunnen-
skulptur im Park. Im Vortragssaal zeigen wir während der Laufzeit ihren Spielfilm Remote, der während der Pandemiezeit entstanden ist und eine weitere überraschende Geschichte von Verbindungen in einer Zeit der Distanzierung zwischen der digitalen und analogen Welt erzählt. 

Roland Wetzel ist Direktor des Museum Tinguely
und Kurator der Ausstellung

Schreibe einen Kommentar