Museum Tinguely
07.02.2024 – 12.05.2024
«Ein Bild hat mich selten losgelassen: die spiegelglatte Nordsee im Gegenlicht, am 7. Mai 1945. Eigentlich war es die Elbe, der unendlich weite Fluss in Glückstadt bei Hamburg. Nach der Auflösung unserer Arbeitsdienst-Infanterie-Division, der ich angehört hatte – ich war erst zwei Wochen zuvor 17 geworden – befand ich mich auf dem Weg nach Hause, aber nicht gleich südwärts. Ich nahm an, dass das Kriegsende auch das Ende aller Gefahren bedeuten würde, und so machte ich einen Umweg, um zum ersten Mal in meinem Leben das Meer zu sehen. Um die Mittagszeit ging ich von Osten her auf den Deich zu und dann durch ein Tor: Da war es und funkelte wie Quecksilber, reines Licht auf der Wasseroberfläche, eine blendende, atmende, heisskalte Fläche.»
Otto Piene, 1965
Von Dr. Sandra Beate Reimann und Dr. Lauren Elizabeth Hanson,
Kuratorinnen der Ausstellung
Der Anblick der spiegelnden Wasseroberfläche war ein Schlüsselerlebnis für den jungen Otto Piene (1928–2014), auf das er in Interviews immer wieder zu sprechen kam. Schon als Kind begann er zu zeichnen und zu aquarellieren. Sein Skizzenbuch war sein wichtigster Besitz, als Piene mit 15 Jahren als sogenannter Flakhelfer zum Kriegsdienst einrücken musste. Er trug es in dieser Zeit stets bei sich und hielt darin seine Eindrücke fest. Der Blick in den Nachthimmel illuminiert von Suchscheinwerfern oder Explosionen waren prägende, traumatische Erlebnisse, die er als Künstler in eine Bekräftigung des Lebens zu wandeln suchte. Erste Bekanntheit erlangte Otto Piene 1958 zusammen mit Heinz Mack als Mitgründer von ZERO in Düsseldorf (1961 stiess Günther Uecker zur Kerngruppe). Gegenüber dem Dunkel des Krieges und in Abgrenzung zur gestischen Malerei der Zeit proklamierten sie einen Neuanfang der Kunst, orientiert an Licht, Vibration, Reinheit, Energie und Kosmos. ZERO wurde bald zu einem einflussreichen Netzwerk in ganz Europa. Gemeinsam war den ZERO-
Künstler:innen, zu denen auch Jean Tinguely zählte, ein Interesse an optischer Wahrnehmung, am Kinetischen und an einer radikalen Reduktion der Form. In jener Zeit entwickelte Piene seine frühen wegweisenden Werke wie die Rasterbilder, seine Rauchzeichnungen und erfand seine Lichtballette. In seinem Manifest «Wege zum Paradies» schrieb er 1961: «Ich gehe das Dunkel selber an, ich durchleuchte es, ich mache es durchsichtig, ich nehme ihm seinen Schrecken, ich mache es zu einem Volumen von Kraft, bewegt von Atem wie mein Körper und ich nehme Rauch, damit es fliegen kann.» So beginnt auch der Ausstellungsparcours im Museum Tinguely mit dem Lichtballett mit Mönchengladbachwand (1963–2013). Es handelt sich um einen immersiven Erfahrungsraum, in dem Lichtquellen einen kinetischen Tanz des Lichtes in einer Choreografie variierender Muster und Rhythmen im Raum erzeugen: ein Fluss aufleuchtender und verglimmender Lichtpunkte und -schlieren. Damit betont die Ausstellung die Bedeutung von Pienes früher Biografie für seine Kunstauffassung und den daraus abgeleiteten visionären Anspruch. Weitere Durchbrüche erzielte Piene in seiner Kunst Ende der 1960er-Jahre.
Damals wurde er erster internationaler Fellow am Center for Advanced Visual Studies (CAVS) des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA und 1974 darüber hinaus auch Leiter des CAVS, als Nachfolger von György Kepes. Diese zweite grosse Schaffensperiode ist besonders geprägt durch seine Erfindung der Sky Art. Es handelte sich um seinen bereits 1961 geäusserten Wunsch, den Himmel für die Kunst zu nutzen und ihn nicht allein der Industrie und dem Militär zu überlassen. Sky Art umfasst öffentliche Skulpturen (viele davon aufblas- und tragbar), Performances und partizipatorische Events, die die natürlichen Bedingungen ihrer Umgebung respektive der Atmosphäre (Wind, Schwerkraft, Licht etc.) einbeziehen. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen und Künstler:innen am MIT entwickelte Piene Inflatables und Laser, mit denen er Linien, Blumen, Fische, Regenbogen und andere Formen in den Himmel zeichnen konnte. Auf diese Weise erschloss er der Kunst neue Rezipient:innen und Räume. Er entwarf mit seiner Sky Art auch konkrete politische und symbolische Projekte, wie Olympischer Regenbogen (1972) oder Black Stacks Helium Sculpture (1976), die beispielhaft sind für eine soziale, gemeinschaftliche und optimistische Kunst, die sich gezielt an ein Massenpublikum richtete und gegen eine elitäre Abschottung der Kunstwelt positionierte. Ein Schwerpunkt der Ausstellung liegt mit Werken der späten 1960-er und frühen 1970er-Jahre auf dieser künstlerisch bedeutsamen Übergangsphase nach dem offiziellen Ende von ZERO. Aus dieser Zeit, in der Piene zwischen den USA und Westdeutschland pendelte, stammen die frühen, zentralen immersiven Installationen (The Proliferation of the Sun, 1967; Fleurs du Mal, 1969), aber auch seine innovativen Experimente mit Fernsehen und Lichtprojektion (Black Gate Cologne, 1968; The Medium Is the Medium, 1969; Lichtspur im Haus der Sonne, 1974).
Ein besonderes Highlight stellt die Installation Anemones: An Air Aquarium von 1976 dar, die letztes Jahr rekonstruiert wurde und einen zentralen Raum in der Ausstellung einnimmt. Entlang seiner wichtigsten Projekte und Werkserien zeichnet die monografische Ausstellung Wege zum Paradies die Visionen des Künstlers nach: die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu fördern, die Trennung zwischen Kunst und Technik zu überwinden, ökologischen Verwerfungen zu begegnen und vor allem einen Beitrag zu einer friedvolleren, von der Kunst geeinten Welt zu leisten. Dabei stehen Kunstwerke unterschiedlicher Gattungen sowie aus verschiedenen Zeiträumen miteinander und insbesondere mit seiner stetigen Praxis des Zeichnens im Dialog. Leitmotive bilden die Begriffe des Zeichnens und Entwerfens, sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne, buchstäblich und übertragend als Mittel seiner künstlerischen Praxis. Neben seinen Rasterbildern, Rauchzeichnungen, Feuerbildern und Lichtskulpturen versammelt die Ausstellung mehr als 20 Skizzenbücher des Künstlers und ermöglicht so neue Lesarten von Pienes Œuvre.
Pienes lebensbejahender, konstruktiver Ansatz und sein uneingeschränkter Glaube an das Potenzial der Kunst, die Gesellschaft zu verbessern, erscheinen heute als historische Position. Und doch hat seine Kunst gerade heute eine grosse Relevanz. Wege zum Paradies fragt, was wir heute von Otto Pienes visionärer Kunst lernen können. Welche Wege für die Zukunft weist sie uns heute? Die Ausstellung lädt dazu ein, sein Werk als Werkzeug der Erweiterung unserer
Vorstellungswelt wiederzuentdecken. ◀