Ein Pionier der elektronischen Musik

Edgard Varèse – Komponist Klangforscher Visionär
28.04. – 27.08.2006 | Museum Tinguely Basel

Das Museum Tinguely und die Paul Sacher Stiftung stellen mit Edgard Varèse (1883−1965) einen wegweisenden Komponisten und Klangforscher des 20. Jahrhunderts vor.

Von Heidy Zimmermann*

Bereits seit den 1920er Jahren insistierte Edgard Varèse auf der Forderung nach neuen Instrumenten. Er träumte von einem Laboratorium, in dem er Klänge physikalisch erforschen sowie mit maschinellen Klangerzeugern experimentieren könnte. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Paris und Köln wie auch in New York Studios für elektronische Musik entstanden, erhielt Varèse im Kontakt mit jüngeren Komponisten Gelegenheit, seine Vorstellungen zu konkretisieren. Mit den Tonbandinterpolationen zu «Déserts» und mit dem «Poème électronique», seinem Beitrag zum Philips-Pavillon von Le Corbusier an der Brüsseler Weltausstellung von 1958, schuf er zwei wichtige Kompositionen elektronischer Musik.
Nachdem die Projekte «The One-All-Alone» und «Espace», die ihn seit ca. 1930 beschäftigten, nicht zur Vollendung gelangten, transformierte Varèse seine Pläne für ein multimediales Werk und wandte sich intensiv dem Thema «Wüstenlandschaften» zu, einem Thema, das ihn seit seinen Aufenthalten in New Mexico Mitte der 1930er Jahre faszinierte. 1949 nahm er die Arbeit an «Déserts» auf, wobei das Werk zunächst rein instrumental für 14 Bläser, 5 Schlagzeuger und Klavier konzipiert war. Gleichzeitig dachte Varèse an eine filmische Umsetzung. In einer Projektskizze, mit der er u.a. Walt Disney als Partner zu gewinnen hoffte, formulierte er sein umfassendes Verständnis von «Wüste»: «Mit Wüste ist jede Form von Wüste gemeint: Die Wüsten der Erde (Sand, Schnee, Fels), die Wüsten des Meeres, die Wüsten des Himmels (planetarische Nebel, Galaxien) und die Wüsten im Bewusstein des Menschen.» (1949)
Dieses Assoziationsfeld von Raum, Einsamkeit und Distanz stellte er sich in einem kontrapunktischen Verhältnis von Musik und Film vor: «Visuelle Bilder und organisierte Klänge dürfen sich nicht duplizieren. Fast immer stehen Licht und Ton derart in einem Gegensatz, dass sie die höchstmögliche emotionale Reaktion auszulösen vermögen» (Varèse, 1949). Dabei geht es um die Darstellung des solitären Ichs in einem unendlichen Raum – eine Darstellung, die sich musikalisch keineswegs narrativ manifestiert, sondern gänzlich abstrakt, etwa indem versucht wird, mittels lang ausgehaltener Akkorde oder Einzeltöne ins innere Wesen des Klangs einzudringen.
Eine entscheidende Wende im Kompositionsprozess von «Déserts» fand in dem Moment statt, als Varèse beschloss, in den fertigen Instrumentalsatz drei «Interpolationen», Tonbandeinspielungen aus «organisierten Klängen», einzufügen. Es sind scharf umrissene elektronische Zwischenspiele, die modifizierte Aufnahmen von Schlaginstrumenten, Orgel und Fabrikgeräuschen verwenden. Das Rohmaterial dazu hatte Varèse selbst gesammelt, nachdem er im Frühjahr 1953, als die Uraufführung von «Déserts» schon festgesetzt war, ein Ampex-Tonbandgerät geschenkt bekommen hatte. Diese Aufnahmen wurden mit der technischen Assistenz von Ann McMillan und Pierre Schaeffer transformiert und durch elektronisch erzeugte Klänge ergänzt. Die Interpolationen erfuhren dann mehrere Umarbeitungen, bis Varèse sie 1965 zur Veröffentlichung freigab und gleichzeitig die rein instrumentale Aufführung von «Déserts» zur alternativen Fassung erklärte.
Varèses Pläne für ein filmisches Pendant wurden schliesslich doch noch verwirklicht: 40 Jahre nach der Entstehung von «Déserts» setzte der Videokünstler Bill Viola die Grund-idee der Opposition und Komplementarität von Klang und Bild kongenial um. Er reagierte damit auf Varèses Vision, dass für einmal nicht eine «Musik zum Film» geschrieben werden sollte, sondern «eine Partitur zur Idee des Films, bevor die Aufnahmen gemacht wurden» (Varèse, 1952).
Die Uraufführung von «Déserts» am 2. Dezember 1954 in Paris löste einen der grössten Skandale in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts aus. Erst nach Varèses Tod wurde erkannt, dass er zu den epochalen Komponisten des 20. Jahrhunderts gehört, die unsere Vorstellung, was Musik sei und bedeuten könne, entscheidend erweitert haben.
* Heidy Zimmermann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Paul Sacher Stiftung

Edgard Varèse: Kunst-Geräusche

Edgard Varèse – Komponist Klangforscher Visionär
28.04. – 27.08.2006 | Museum Tinguely Basel

In Zusammenarbeit mit der Paul Sacher Stiftung zeigt das Museum Tinguely Basel die gemeinsam konzipierte, umfassende Ausstellung zum franko-amerikanischen Komponisten Edgard Varèse (1883–1965). Autographen und Dokumente aus dem jüngst von der Stiftung erworbenen und damit erstmals öffentlich zugänglichen Nachlass des Komponisten stehen im Dialog mit zahlreichen Werken befreundeter Künstler wie Alexander Calder, Marcel Duchamp, Joan Miró, die Varèse von ihnen als Geschenke erhielt.

Von Heinz Stahlhut

Ansicht der Varèse-Ausstellung im Museum Tinguely; Im Vordergrund eine Sirene aus Varèses Privatsammlung, im Hintergrund die Varèse-Büste von Gaston Lachaise und Partiturseiten von Amériques.
Ansicht der Varèse-Ausstellung im Museum Tinguely; Im Vordergrund eine Sirene aus Varèses Privatsammlung, im Hintergrund die Varèse-Büste von Gaston Lachaise und Partiturseiten von Amériques.
Manche Besucher werden sich vielleicht fragen, weshalb das Museum Tinguely eine Ausstellung zu einem Komponisten zeigt. Natürlich ist die Schau eine Hommage an Paul Sacher, den Gründer sowohl der Paul Sacher Stiftung, der bedeutenden Sammlung von Komponistennachlässen, als auch des Museums Tinguely, dessen zehnjähriges Jubiläum 2006 mit dem 100. Geburtstag Sachers zusammenfällt.
Darüber hinaus gibt es aber zwischen Edgard Varèse und Jean Tinguely einige Berührungspunkte: Etwa das an Naturwissenschaft und Technik orientierte Künstlerbild oder die Suche nach neuen Ausdrucksformen, die die Herausforderungen durch die Industriegesellschaft reflektieren. Hier soll jedoch vor allem von den Schlaginstrumenten die Rede sein, die im Schaffen von Varèse wie Tinguely eine wichtige Rolle spielen, weshalb während der Ausstellung auch eine Auswahl von Geräuschplastiken Tinguelys zu sehen sein wird.
Edgard Varèse, 1962: «Ich habe meine Musik ‹organisierte Klänge› genannt und mich selbst nicht einen Musiker, sondern einen ‹Arbeiter an Rhythmus, Frequenz und Lautstärke›. Tatsächlich war für einschlägig beeinflusste Ohren alles Neue in der Musik stets Lärm. Aber was ist denn Musik anderes als organisierter Lärm? Und ein Komponist gibt, wie alle Künstler, ungleichartigen Elementen eine Ordnung.» ( I decided to call my music «organized sound» and myself, not a musician, but «a worker in rhythms, frequencies, and intensities». Indeed, to stubbornly conditioned ears, anything new in music has always been called noise. But after all what is music but organized noises? And a composer, like all artists, is an organizer of disparate elements.)
Varèses Komposition «Ionisation» für 13 Schlagzeugspieler von 1931 wurde jüngst zu Recht als eine seiner kompromisslosesten Formulierungen einer Idee von Musik bezeichnet, die sich von der Tradition weitgehend emanzipiert hat («one of his most extreme statements of a conception of music only tangentially related to the past»). Vor ihm hatten erst im frühen 20. Jh. Komponisten wie Claude Debussy und Igor Strawinsky – angeregt durch aussereuropäische Musiktraditionen – begonnen, dem Schlagzeug eine autonomere Rolle im Orchester zuzuweisen. Hierauf konnte sich Varèse bei der sehr ungewöhnlichen, reinen Schlagzeugbesetzung beziehen, die nur durch zwei Sirenen komplettiert wird. So wurde nicht allein das bislang untergeordnete Schlagzeug zum selbstständigen Klangkörper, sondern der musikalische Klang wurde aus den Zwängen des temperierten Systems befreit und von einem linearen zu einem plastisch-räumlichen Phänomen gemacht.
«Der Ton – ich nenne es Ton. Ich komponiere mit ihm, ich verwerte ihn als Ausdruckselement; ebenso wie die visuelle, dreidimensionale Erscheinung ist er für mich […] zusätzlich einfach ein natürliches Bauelement der Arbeit, die ich mache.» (Jean Tinguely, 1960). Bei Tinguely setzt die Beschäftigung mit dem Phänomen des Schlagzeugklangs schon mit dem «Relief Méta-mécanique sonore II» von 1955 ein. Gegenüber den abstrakten Drahtreliefs, die mit ihren Rädern aus dünnem Draht selbst zarte Töne hervorbringen, weist das «Relief Méta-mécanique sonore II» eine entscheidende Neuerung auf: Unauffällig hat der Künstler Büchsen und Trichter, Gläser und Flaschen eingebaut, die durch Schlegel zum Klingen gebracht werden. Da man nie genau weiss, von wo der nächste Ton kommen wird, springt der Blick des Betrachters dem akustischen Ereignis immer hinterher. Bei diesem unwillkürlichen Nachvollzug des Kunstwerks durch den Betrachter versucht dieser nicht, einer angelegten Fährte zu folgen, sondern sind die Zeit des Kunstwerks und des Betrachters identisch. Im späten Schaffen zeigt sich Tinguely als grosser Symphoniker: Bei den monumentalen «Méta-Harmonien» wie «Fatamorgana» (1985) arbeitet der Künstler mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln: Neben zahlreichen, grossen, farbigen Holzrädern hat er Dinge eingebaut, mit denen unterschiedlichste akustische Reize hervorgebracht werden. Neben konventionellen Schlaginstrumenten nutzt er Fässer, Holzbalken, Stahlplatten und anderes, um den Gehörsinn spielerisch zu sensibilisieren und Klang und Raum miteinander zu verweben.

Hans Holbein der Jüngere in Basel

Hans Holbein d. J.
Die Jahre in Basel – 1515 bis 1532
Das frühe Porträt

01.04. – 02.07.2006 | Kunstmuseum Basel

Das Kunstmuseum Basel zeigt bis zum 2. Juli 2006 eine grosse Werkschau, die Hans Holbein dem Jüngeren gewidmet ist. Im Fokus der Ausstellung stehen Werke, die Holbein zwischen 1515 und 1532 in Basel geschaffen hat.

Von Christian Müller

Hans Holbein d.J., Bonifacius Amerbach
Hans Holbein d.J., Bonifacius Amerbach
Hans Holbein d.J. kam 1515 zusammen mit seinem Bruder Ambrosius nach Basel. Hier arbeitete er, unterbrochen von Aufenthalten in Luzern zwischen 1517 und 1519, einer Frankreichreise 1523/24 und einem ersten Englandaufenthalt zwischen 1526 und 1528, bis ins Jahr 1532. Dann wandte er sich erneut nach England, wurde 1536 Hofmaler Heinrichs VIII. und sollte nur noch einmal, nämlich 1538, für kurze Zeit nach Basel zurückkehren. Hans Holbein d.J. starb 1543 in London.
Die Ausstellung präsentiert das Werk Holbeins, das zwischen 1515 und 1532 in Basel entstand, so gut wie vollständig und in chronologischer Folge; Zeichnungen und Gemälde hängen unmittelbar nebeneinander und ermöglichen so einen direkten Vergleich.
Im ersten Raum sind neben Werken von Hans Holbein d.Ä., dem Vater von Hans und Ambrosius, die Flügelbilder der Basler Müns-terorgel ausgestellt. Hier verlässt die Ausstellung die Chronologie, sind doch die Bilder erst 1525 oder 1528 entstanden, doch nur so lassen sie sich angemessen präsentieren: Diese grossen Leinwandbilder befanden sich ursprünglich etwa elf Meter über Bodenniveau des Basler Münsters an der nördlichen Langhausseite.
In der Ausstellung sind sodann die religiösen Tafelbilder Holbeins zu sehen, die im Unterschied zum Gemälde mit dem Leichnam Christi, dem Passionsaltar oder dem Abendmahl nicht zur eigenen Sammlung gehören. Sie sind aber in Basel entstanden und später an andere Orte gelangt. Zu ihnen gehört der Oberried-Altar aus der Universitätskapelle im Freiburger Münster. Bei den beiden Flügeln handelt es sich um die grössten erhaltenen Tafelbilder Holbeins; sie entstanden um 1520. Ein weiteres wichtiges Gemälde ist die Solothurner Madonna aus dem Kunstmuseum Solothurn, die Holbein für den Basler Stadtschreiber Johannes Gerster und seine Frau Barbara Guldinknopf im Jahr 1522 malte. Die Darmstädter Madonna aus dem Besitz der Hessischen Hausstiftung entstand 1526 und wurde von Holbein 1528 überarbeitet. Sie ist zweifellos eines der bedeutendsten Gemälde Holbeins. Der Künstler hatte den Auftraggeber, Jacob Meyer zum Hasen mit seiner Frau Dorothea Kannengiesser, bereits ganz zu Beginn seiner Tätigkeit 1516 in Basel porträtiert. Aus seiner frühen Schaffenszeit stammt auch das Bildnis des Benedict von Hertenstein, das Holbein während seines Aufenthaltes in Luzern malte. Es ist eine Leihgabe des Metropolitan Museum New York.
Die Zeit des ersten Englandaufenthaltes zwischen 1526 und 1528 konnte auf keinen Fall unberücksichtigt bleiben, kehrte Holbein doch nach Basel zurück und entwickelte sich während dieser Jahre deutlich weiter. Das Porträt der Lady Guildford aus St. Louis/Missouri vertritt dabei den Typus des höfischen Repräsentationsporträts. Es wird neben der Vorstudie der Lady Guildford präsentiert, die sich in unserer Sammlung befindet. Das Bildnis einer Dame mit Eichhörnchen aus der National Gallery London ist ein weiteres herausragendes Beispiel, das Holbeins Fähigkeiten als Porträtmaler zum Ausdruck bringt. Es stellt vermutlich Anne Lovell dar und entspricht eher einem privaten Bildnis, das auf grosse Gesten und reiche Architekturmotive verzichtet, welche die Dargestellte überhöhen. Das Doppelbildnis des Thomas Godsalve und seines Sohnes John aus der Gemäldegalerie Dresden zeigt besonders schön die Fähigkeit Holbeins, die Charaktere der Personen zu erfassen.
Das bedeutendste Werk aber, das Holbein 1527 in England schuf, war das Familienbildnis des Thomas More. Zwei Einzelstudien aus Windsor Castle sind neben der einzigen erhaltenen Entwurfszeichnung Holbeins für dieses Gruppenbildnis ausgestellt: Die eine zeigt Mores Tochter, Elizabeth Dauncey, die andere Thomas Mores einzigen Sohn John.
Aus den letzten Jahren Holbeins in Basel, zwischen 1528 und 1532, haben sich nur wenige Werke erhalten. Holbein war auch Zeuge des Bildersturms, als sich die Reformation 1529 gewaltsam Bahn machte.
Um diese Zeit entstand das so genannte Familienbild, das seine Frau Elsbeth Binzenstock mit den beiden älteren Kindern Katharina und Phillip zeigt – und vermutlich den Maler selbst wiedergab, dem sich die Kinder zuwenden.
Eine Folge von zehn Scheibenrissen zur Passion Christi und die beiden Entwürfe für Wandbilder im Basler Grossratssaal, «Rehabeams Übermut» und «Samuel flucht Saul», stehen am Ende der Basler Tätigkeit.
Holbein brachte sowohl 1528 als auch 1538 Zeichnungen von England nach Basel zurück. Eine kleine Gruppe dieser Zeichnungen ist im vorletzten Raum der Ausstellung zu sehen. Hier hängt auch ein Tafelbild, das zu Beginn der 30er Jahre in England entstand, eine Leihgabe aus der Gemäldegalerie in Edinburgh. Das Bild, eine religiöse Allegorie, in deren Mittelpunkt der erlösungsbedürftige Mensch vor dem Gesetz und der göttlichen Gnade gezeigt wird, entstand zwar in England. Doch das Thema hat seinen Ursprung vor 1525 im Kreise reformerischer Kräfte auf dem Kontinent. Heinrich VIII., der 1535 mit der katholischen Kirche brach, muss an diesem Thema Interesse gefunden haben und machte sich dieses möglicherweise politisch nutzbar.
In der Ausstellung überwiegen quantitativ die Zeichnungen Holbeins. Es ist gelungen, so gut wie sämtliche eigenhändigen Zeichnungen von Leihgebern aus öffentlichen und privaten Sammlungen für diese Ausstellung auszuleihen: Sie stammen aus Augsburg, Berlin, Braunschweig, Leipzig, Lille, München, London, Oxford, Paris sowie der Sammlung der englischen Königin Elisabeth II. Holbeins Zeichnungen treten in vielen Fällen nicht als Skizzen, als flüchtige Entwürfe in Erscheinung, sondern sie besitzen häufig die Qualität von finalen Werken – sie haben einen Anspruch, der sie mit Gemälden vergleichbar macht.

Hans Holbein d. J. in Basel

Hans Holbein d. J. – Die Jahre in Basel – 1515 bis 1532
01.04. – 02.07.2006 | Kunstmuseum Basel

Von Christian Müller

Das Basler Kunstmuseum zeigt in einer grossen Ausstellung das zwischen 1515 und 1532 in Basel entstandene Werk von Hans Holbein dem Jüngeren. In einer zweiten Ausstellung zeigt anschliessend die Tate Britain in London die Zeit Holbeins in England nach 1532. Von Christian Müller
Nach fast einem halben Jahrhundert – die letzte grosse Holbeinausstellung fand 1960 in Basel statt – wird das reiche und vielfältige Werk, das Hans Holbein der Jüngere in seiner Basler Zeit geschaffen hat, wieder zu sehen sein. Die Ausstellung im Basler Kunstmuseum, das weltweit die grösste Sammlung an Gemälden, Zeichnungen und druckgrafischen Werken des Künstlers besitzt, versammelt einen Grossteil aller erhaltenen Werke aus Holbeins Basler Schaffensjahren zwischen 1515 und 1532. Holbeins hochrangiges Œuvre wird mit rund vierzig Gemälden, einhundert Zeichnungen und zahlreichen druckgrafischen Werken vor Augen geführt. Zu den bedeutenden Leihgaben gehören der «Oberried-Altar» aus dem Münster in Freiburg i.Br., die «Solothurner Madonna» und die «Darmstädter Madonna». Hinzu kommen Bildnisse aus Holbeins erstem Englandaufenthalt zwischen 1526 und 1528, etwa das der Anne Lovell aus London, der Lady Mary Guildford aus St. Louis (USA) und des Thomas Godsalve mit seinem Sohn John aus Dresden. Die Zeichnungen, die in der Basler Sammlung reich vertreten sind, werden durch Leihgaben aus Augsburg, Berlin, Braunschweig, Leipzig, Lille, London, München, Paris und Windsor Castle ergänzt, so dass das zeichnerische Werk nahezu vollständig gezeigt werden kann. Im Anschluss an die Schau bringt die Tate Britain in London vom 28. September 2006 bis zum 7. Januar 2007 in einer gesonderten Ausstellung Holbeins Zeit als Hofmaler Heinrichs VIII. zur Darstellung. Den Besuchern bietet sich damit die einmalige Möglichkeit, eine Vorstellung vom Gesamtwerk des Künstlers zu erhalten und sonst auf Museen der ganzen Welt verteilte Werke im direkten Vergleich in ihrer Besonderheit besser und anders wahrzunehmen.
Von Augsburg nach Basel.

Hans Holbein d. J. Die Fledermaus, um 1523
Hans Holbein d. J. Die Fledermaus, um 1523
Hans Holbein d. J. gehört zu den bedeutendsten Künstlern des frühen 16. Jahrhunderts. Er steht gleichrangig neben Albrecht Dürer, Hans Baldung Grien und Matthias Grünewald. Damals blühten am Oberrhein die Künste der Malerei, der Zeichnung und des Buchdrucks. Aus Augsburg stammend, kamen Hans Holbein d. J. und sein Bruder Ambrosius im Jahr 1515 nach Basel. Ihre künstlerische Ausbildung hatten sie bei ihrem Vater Hans Holbein d. Ä. erhalten, der in Augsburg eine grosse Malerwerkstatt leitete. In Basel konnte Hans früh schon seine Begabung als Porträtist und Maler von Fassadendekorationen unter Beweis stellen. Er erhielt den Auftrag von der Stadt, den Grossratssaal mit Wandbildern auszumalen und führte bald schon Aufträge für religiöse Tafelbilder aus. Er stand in engem Kontakt mit Druckern, für die er Entwürfe für Buchillustrationen lieferte, und den in Basel wirkenden Humanisten, unter ihnen kein Geringerer als Erasmus von Rotterdam, den er mehrmals porträtierte.
Frankreich und England. Nicht nur die beginnende Reformation in Basel und deren negative Auswirkung auf die Kunstproduktion, sondern auch der Anspruch, den der Künstler an sich selber stellte, bewogen ihn schon bald, sich nach anderen Wirkungsstätten umzuschauen. So wandte er sich 1523/1524 nach Frankreich und dann nach England, um eine Tätigkeit als Hofmaler anzustreben. Während seines ersten Englandaufenthaltes zwischen 1526 und 1528 malte er Dekorationen für die Feste am Hof Heinrichs VIII. (1491–1547). Es gelang ihm, Aufträge für Bildnisse von Angehörigen der englischen Aristokratie aus dem Umkreis des Hofs zu erhalten. Zu den herausragendsten künstlerischen Leistungen dieser Zeit zählt das Familienbild des Thomas More (1478–1535), das den Kanzler Heinrichs VIII. im Kreis seiner Familie zeigt – es ist das früheste Gruppenbildnis nördlich der Alpen. Erhalten haben sich der Entwurf Holbeins und Porträtstudien (im Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett und in der Royal Collection in Windsor Castle, England); das Gemälde selbst verbrannte im 18. Jahrhundert.
Zurück in Basel. Holbein kehrte 1528 für wenige Jahre nach Basel zurück, wo seine Familie lebte. Damals malte er das Bildnis seiner Frau mit den beiden älteren Kindern. Noch unmittelbar vor der Reformation, die 1529 Europa in Atem hielt, könnte er die Orgelflügel für das Basler Münster ausgeführt haben. Die gezeichnete Passionsfolge im Kupferstichkabinett Basel gehört jedenfalls zu den letzten Aufträgen mit religiösen Themen. In dieser Zeit vollendete Holbein auch die Ausmalung des Basler Grossratssaals. Im Jahr 1532 wandte er sich erneut nach London. Dort hatte er Kontakt zu der deutschen Handelsniederlassung im Stalhof, für deren Mitglieder er Porträts ausführte und deren «Guildhall» er mit Wandgemälden schmückte. 1535 wurde er Hofmaler Heinrichs VIII. Ein Jahr vor seinem unerwarteten Tod 1543 in London bezeichnete er sich auf dem Selbstbildnis, das in den Uffizien in Florenz aufbewahrt wird, als Bürger von Basel, der Stadt, der er innerlich stets verbunden blieb.
Die Sammlung im Kunstmuseum Basel.
Das Kunstmuseum Basel birgt weltweit die grösste Sammlung dieses bereits zu Lebzeiten hochgeschätzten Künstlers. Bereits im Jahr 1661 konnte mit dem Ankauf des «Amerbach-Kabinetts» der grösste Teil dieses bedeutenden Ensembles von Holbein-Werken für Basel gesichert werden. Das Amerbach-Kabinett ist die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandene Sammlung des Basler Juristen Basilius Amerbach (1533–1591), die auch den ererbten Besitz seines Vaters Bonifacius Amerbach (1495–1562) und eine grosse Bibliothek beinhaltete. Im Jahr 1823 kamen mit der Übergabe des «Museum Faesch» an die Öffentliche Kunstsammlung der Universität weitere wichtige Werke hinzu, so u. a. das Doppelbildnis des Jacob Meyer zum Hasen und seiner Frau Dorothea Kannengiesser von 1516 mit den dazugehörenden Vorzeichnungen. In Basel ist man sich schon lange der Bedeutung des Künstlers und der hohen Qualität seiner Werke bewusst. Noch 1538 hatte der Rat der Stadt versucht, Holbein nach Basel zurückzulocken, und dies, obwohl zahlreiche Bilder des Künstlers während des Bildersturms 1529 zerstört und beschädigt worden waren. Manche Werke sind Basel auch durch andere Umstände verloren gegangen. Sie wurden aus Furcht vor Zerstörung ins angrenzende Deutschland gebracht und blieben daher unvollendet (wie beispielsweise der «Oberried-Altar» in Freiburg im Breisgau); die berühmte «Darmstädter Madonna» veräusserten die Erben der Auftraggeber im 17. Jahrhundert ins Ausland.

Matisse – Kunst auf der (Scheren-)Spitze

Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 23.07.2006 | Fondation Beyeler

«Mit der Schere zeichnen. – Frisch in die Farbe hineinschneiden erinnert mich an den direkten Meisselschlag des Bildhauers». Henri Matisse, «Jazz», 1947

Von Daniel Kramer

Henri Matisse, Les bêtes de la mer, 1950 © Pro Litteris
Henri Matisse, Les bêtes de la mer, 1950 © Pro Litteris

Jazz» nennt Henri Matisse seine Publikation, die er 1947 veröffentlicht hat und welche im Foyer der Fondation Beyeler den Auftakt zur grossen Matisse-Ausstellung bildet. Mit «Jazz» rücken die Scherenschnitte ins Zentrum von Matisse’ Arbeit. Die Papiers découpés setzen sich von der traditionellen Ölmalerei ab wie Jazz von der klassischen Musik. Sie überraschen durch neuartige Klänge, durch ungewohnte Harmonien, Rhythmen und insbesondere durch gewagte Farb- und Formimprovisationen. Matisse’ Scherenschnitte sind von unerhörter Frische. In scheinbarer Leichtigkeit lässt der Künstler die knallbunten Papierstücke aufeinander prallen. Die Farben werden nicht mehr ineinander vermischt, sondern bleiben hart nebeneinander stehen. Die Schnittkante übernimmt, was früher der Zeichenstift geleistet hat. In rasantem Tempo fährt Matisse mit der Schere in die bemalten Papierbögen. Es gibt keine Vorzeichnung, die Schere holt sich die Farbbrocken aus dem Papier heraus. Zeichnen mit der Schere nennt Matisse dieses Verfahren:
«Der Scherenschnitt erlaubt es mir, unmittelbar in die Farbe zu zeichnen. Für mich bedeutet dies eine Vereinfachung. Statt die Kontur zu zeichnen und die Farbe darin zu platzieren, zeichne ich jetzt direkt in die Farbe… Diese Vereinfachung garantiert mir eine Genauigkeit in der Vereinigung zweier Mittel, die zu einem einzigen werden… Dies ist kein Ausgangspunkt, sondern ein Endpunkt.»
Nach dem Herausmeisseln folgt das Anordnen der Farbformen auf Papier und Leinwand – das Komponieren. Die einzelnen Elemente werden mit Stecknadeln provisorisch fixiert. Erst wenn die definitive Lösung gefunden ist, wird das Ganze aufgeklebt.
Das auf der oben abgebildete Werk «Les bêtes de la mer» (1950) erinnert noch an die Bildseiten von «Jazz». Der grossformatige Papierschnitt wirkt verspielt und – im Gegensatz zu «Nu bleu I»von 1952 – ausgesprochen erzählerisch. Die «Spielfelder» bzw. Meerestiefen mit den verschiedenen Farb- und Formimprovisationen sind turmartig übereinander geschichtet. Erst mit der Zeit entdecken wir über die scharf geschnittenen Grenzen hinweg Korrespondenzen und Zusammenklänge. So die blaue Spiralform links oben und rechts und die wundervoll aufschwingenden weissen, blauen und schwarzen Bänder im oberen und unteren Bildbereich. Trotz des Titels werden nicht in erster Linie «Les bêtes de la mer» zum Bildthema gemacht. Nicht Fische oder Schlangen werden gezeigt, sondern das Gleiten und Schlängeln, das Wellen, Hochschiessen und Krabbeln. Matisse’ Komposition bleibt weitgehend abstrakt. In der Transparenz des Wassers werden Bewegungsmotive und Farbklänge festgehalten. Matisse’ Farbformen haben die Fähigkeit, sich zu verwandeln. Sie sind mehrdeutig. Das ist ihre Qualität. Sie verweisen in ihrer knappen, verdichteten Form auf verschiedenste Inhalte. Auch Matisse’ Urpflanze, die im tiefen Meeresgrund liegende Alge, erfährt – genau wie die sitzende, liegende oder stehende Frau – immer wieder überraschende Metamorphosen. Die «Weisse Alge» auf rotem und grünem Grund (1947, Abb. S.19) wird bei näherem Hinsehen zur Tänzerin, der «Blaue Frauenakt I» (1952) verwandelt sich in ein abstraktes, lichtvolles Ornament.

Henri Cartier Bresson, Henri Matisse, Villa Le Rêve, Vence um 1944
Henri Cartier Bresson, Henri Matisse, Villa Le Rêve, Vence um 1944

Keine Erzählung: Ein Klang «Nu bleu I»(1952) besteht nur aus blauem Papier und Zwischenräumen. Die blauen ineinander verschlungenen Papierstreifen und die lichterfüllten Zwischenräume erzeugen eine subtile Räumlichkeit und einen wundervollen Klang. Matisse, 83 Jahre alt, bringt in diesem aussergewöhnlichen Werk nochmals alles ins Spiel, was ihn sein Leben lang beschäftigt hat: die Farbe, das Licht, die Form, den Raum und natürlich die Frau. Er hat alles Überflüssige weggeschnitten. Am Schluss seines Lebens gelingt es ihm, alle formalen und inhaltlichen Probleme mit einem einzigen Schlag zu lösen. Die Papiers découpés bedeuten das Ineinssetzen von Zeichnung, Form und Farbe.
Der «Blaue Frauenakt I» hat das Wasser und den freien Himmel in sich aufgenommen und versetzt den Raum in delikate Schwingungen. Mit einer einzigen Bewegung hat Matisse die Linie zur Farbe und den Umriss zur Oberfläche gefügt. «Nu bleu I» ist ein bezauberndes Ornament, ein Bildzeichen, das sofort erfasst wird. Keine Erzählung (keine krabbelnden Meerestiere) – sondern ein einziger Klang. Eben: Einklang.
Nach seinen zahlreichen Farb- und Formimprovisationen, nach all den tollkühnen Experimenten mit der Schere hat sich Matisse im neuen Medium des Scherenschnitts noch ein letztes Mal dem alten Thema der sitzenden Frau zugewandt. Seit Anbeginn hat Matisse Frauenakte gemalt, gezeichnet, modelliert. Immer wieder hat er sich bemüht, das Thema neu zu fassen, die Frau im Innenraum – das Hauptthema der Riehener Ausstellung – neu ins Bild zu setzen: bekleidet, unbekleidet, anonym, als Porträt, als Tänzerin, als Odaliske. Die Frau im Innenraum – das «Frauenzimmer» – ist in diesen Inszenierungen manchmal mehr Zimmer, manchmal mehr Frau, aber immer EIN BILD. Auch die Odaliske, die türkische Haremsdame, ist für Henri Matisse keine erotische, sondern eine malerische Eskapade. Eine Fiktion, die Bildrealität wird. Odaliske heisst «Frau des Zimmers» oder eben: «Femme à l’intérieur».
Matisse malt keine schönen Frauen, sondern schöne Bilder. Achten Sie in der Ausstellung darauf, wie er alle herkömmlichen Schönheitsmerkmale unterdrückt: Es werden kaum Haare oder Hände oder Füsse gemalt. Auch das Gesicht seiner bildhübschen Modelle und insbesondere die Augen werden kaum je ausgeführt. Der Augenkontakt soll nicht mit dem Modell, sondern mit dem Bild aufgenommen werden. Nur selten geht es um das individuelle Antlitz der Frau, immer aber um das Gesicht der Malerei. Vom schönen, beglückenden Modell zur schönen, beglückenden Malerei findet eine geheimnisvolle Übertragung statt. Wie Matisse dieses Kunststück schafft – von «La liseuse» (1895) bis «Nu bleu I» (1952), zeigt die Ausstellung in der Fondation Beyeler aufs Vortrefflichste.

Die Blonde in Rosa

Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 09.07.2006 | Fondation Beyeler

«Nu rose»: Bildbetrachtung zu einem Hauptwerk in der Matisse-Ausstellung

Von Ulf Küster

Obwohl die Bilder von Henri Matisse längst zu Ikonen der Moderne geworden sind, blieben viele Details seiner Lebensgeschichte bis vor kurzem völlig unbekannt. Mit dem Erscheinen der zweibändigen Matisse-Biografie von Hilary Spurling (2005) hat sich dies geändert. Jetzt ist es möglich, die höchst unterschiedlichen Phasen in Matisse’ künstlerischer Produktion mit den Höhepunkten und Krisen seines Lebens in Verbindung zu bringen. Vielleicht war Matisse ein Künstler, der mehr als andere bestimmte menschliche Konstellationen für seine Inspiration benötigte, wobei er wohl eigentlich gar kein geselliger Mensch im landläufigen Sinne gewesen ist. Essentiell für ihn war Zeit seines Lebens die Präsenz von weiblichen Modellen, ohne die er praktisch nicht malen konnte. Die verschiedenen Phasen seines Werkes waren von der körperlichen Präsenz von Frauen abhängig. Die Jahre zwischen 1935 und 1939 könnten in diesem Sinne als Lydia-Phase bezeichnet werden, weil in dieser Zeit Lydia Delectorskaya Matisse’ bevorzugtes Modell gewesen ist, eine junge Frau, die später Assistentin, Haushälterin, enge Vertraute und möglicherweise auch seine Geliebte war. Lydia war als Kind mit ihren Eltern aus Russland nach Frankreich emigriert. Sie hatte seit 1932 Kontakt zur Familie Matisse und war als Gesellschafterin für die schwerkranke Frau von Matisse engagiert worden. Lydia war gross, blond und blauäugig und deswegen eigentlich gar nicht Matisse’ «Typ», dessen Modelle bis dahin eher mediterran brünett gewesen waren. Aber vielleicht war diese Andersartigkeit die entscheidende Inspiration für Matisse, der sich nach der Fertigstellung der Wanddekoration «La Danse» für das Haus des exzentrischen Dr. Barnes bei Philadelphia in einer tiefen künstlerischen Krise befand. Lydia brachte ihn wieder zum Malen. Das Ergebnis ihrer ersten grösseren Zusammenarbeit ist der als «Nu rose» bezeichnete liegende Akt von 1935, der sich als Teil der Cone Collection  im Baltimore Museum of Art befindet und für die Matisse-Ausstellung an die Fondation Beyeler ausgeliehen wurde. Das Gemälde ist eine faszinierende Studie über die Balance von Figur, Farbe und Raum in einem Bild. In 22 verschiedenen Zuständen, die von ihm fotografisch dokumentiert worden sind, hat sich Matisse dem endgültigen Ergebnis angenähert, so lange, bis er das Gefühl hatte, dass alle Bildelemente sich in einem spannungsvollen Gleichgewicht befinden. Alles steht in ausgeklügelter Beziehung zueinander. Da ist zum einen der Frauenkörper, der so gross ist, dass man meint, er würde den Bildraum fast sprengen. Seine Monumentalität und dadurch auch erotische Präsenz, seine geschwungenen organischen Linien werden durch die geometrische Regelmässigkeit des Hintergrundes aufgefangen, vor dem der Akt fast zu schweben scheint. Denn das Bild wirkt einerseits flach und beinahe so, als seien die verschiedenen Ebenen hintereinander gestaffelt; andererseits strahlt gerade der Körper etwas ruhend Voluminöses, Dreidimensionales aus, was mit den unterschiedlichen Rosatönen, mit denen er gemalt ist, und seinen schwarzen Konturen zusammenhängt. Zum anderen ist die Beziehung der Farben untereinander für die Bildbalance sehr wichtig: Im Wesentlichen ist der «Grundakkord» des Gemäldes eine Kombination aus einem grossen, durch regelmässige weisse Linien gegliederten Anteil Blau und zwei kleineren Teilen Rot und Gelb, also eine in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehenden Verbindung der drei Grundfarben. Mit diesen kontrastiert das Rosa der Frau, wenn man so will, die Mischung der Grundfarbe Rot mit dem in diesem Bild «geometrischen» Weiss.
Und dann ist da noch oben, fast in der Mitte des Gemäldes, das gelbe Farbgebilde mit den rotbraunen und rosa Ornamenten. Vergleicht man die Fotografien der früheren Zustände des Bildes, sollte das ursprünglich ein Blumenstrauss sein: e in Mittelding zwischen flachem Fleck und räumlichem Objekt. Wenn man dies aus dem Bild entfernt, würde die gesamte Komposition nicht mehr stimmen. «Nu rose» ist in Matisse’ künstlerischer Entwicklung eine Art Meilenstein, auf seinem Weg zu immer radikalerer Vereinfachung von Figur und Form bis hin zu den zeichenartigen «Papiers découpés» seiner letzten Jahre.

Henri Matisse – Die Kunst, das Glück zu malen

Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 09.07.2006 | Fondation Beyeler

Die Fondation Beyeler zeigt die erste grosse Matisse-Ausstellung in der Schweiz seit fast 25 Jahren und rückt dabei das zentrale Thema des Künstlers ins Licht: den Dialog zwischen der sinnlichen Präsenz der weiblichen Figur und dem künstlichen Paradies des sie umgebenden Innenraums. Vertreten sind alle Schaffensperioden des Künstlers.

Von Philippe Büttner

Henri Matisse, La table noire, 1919 © Succession H. Matisse / ProLitteris, Zürich
Henri Matisse, La table noire, 1919
© Succession H. Matisse / ProLitteris, Zürich
Im Grunde gibt es nur Matisse!» – kein Geringerer als Pablo Picasso hatte diesen Satz anerkennend ausgerufen. Den Spanier und den grossen Koloristen aus Nordfrankreich verband ein tiefer gegenseitiger Respekt, trotz der grundlegenden Verschiedenheit ihres Schaffens, das die Kunst der Moderne so nachhaltig und auf so unterschiedliche Weise prägen sollte: Hier Picasso als rücksichtsloser Ekstatiker der Verformung, der der Welt den Frieden der Form nicht gönnen mochte. Ihm gegenüber der harmoniefähige Matisse, der vom Traum einer Versöhnung von Welt, Farbe und Form beseelt zu sein schien. Freilich lassen sich die beiden grossen Künstler nicht auf eine solch klischeehafte Typisierung ihres Schaffens reduzieren. Dies gilt für Picasso, von dem gerade die letztjährige Ausstellung in der Fondation Beyeler ungewohnte Facetten offenbarte – und es gilt noch mehr für Henri Matisse. Denn bekanntlich ist der französische Maler, Bildhauer und Grafiker (1869-1954) alles andere gewesen als ein blosser Anbieter einer versöhnlichen «Moderne light», die im Gewand harmonischer Farben, Muster und einer üppig-bürgerlichen Sinnlichkeit daherkommt.
Die grosse Riehener Ausstellung, die mit dem Hauptthema «Figur im Raum» gleichsam in den Kern von Matisse’ künstlerischer Arbeit leuchtet, bestätigt dies aufs Schönste. Zwar – und zum Glück – begegnen wir auf Schritt und Tritt jener bestrickenden Opulenz von Matisse’ Bildwelten. Doch spürt man zugleich, dass diese nicht Selbstzweck ist. Denn alleiniger Mittelpunkt von Matisse’ Interesse sind die Möglichkeiten der Malerei. Ihr möchte der Künstler eine völlig neue Grundlage verschaffen. Das Besondere dabei: Er tut dies unter Beibehaltung der Tradition des gegenständlichen Bildes. Wie konnte Matisse hier Neuland gewinnen? Als wichtiger Punkt erwies sich für ihn, die räumliche Ordnung des Bildes neu zu überdenken. Die traditionelle Vorstellung des Bildes als «Guckkasten» war bereits seit Manet, van Gogh und vor allem auch Cézanne hinfällig geworden. Matisse suchte nun nach einer Möglichkeit, im Kielwasser dieser ersten Modernisten die Bildfläche noch stärker als Grundbedingung aller Malerei zu thematisieren. Bahnbrechend wurde für ihn dabei die Entdeckung gemusterter Stoffe als Bildmotiv. Da er aus der Gegend der traditionellen nordfranzösischen Textilproduktion stammte, war ihm diese textile Formenwelt schon sehr vertraut. Es fehlte nur ein konkreter Anlass, um ihn auf die Bildmächtigkeit dieser Muster zu lenken.
Im Jahre 1903 war es soweit. In einem Pariser Schaufenster entdeckte Matisse – eine berühmte Episode – ein Tuch mit schwingenden blauen Mustern auf Weiss, eine «Toile de Jouy», die ihn sofort faszinierte. Er erwarb das Stück und behielt es bis zu seinem Lebensende. Der Stoff taucht fortan in vielen Hauptwerken des Künstlers auf und verzaubert auch die Riehener Ausstellung. Weshalb wurde er so wichtig? Mit einem derartigen Muster als Hintergrund konnte Matisse das alte Modell des Bildes als Guckkasten zur Erzeugung von Raumillusion vollends sprengen. Denn anstelle von «Raum» zeigte er nun als Bildgrund einfach Stoffe, die genauso flach waren wie die ebenfalls gewebte Leinwand, auf der er sie darstellte. Zudem überschwemmten die ornamentalen Stoffmuster die Bildfläche auf einen Schlag mit einem pulsierenden Rhythmus, der das Bild einer höheren formalen Ordnung als der sichtbaren Wirklichkeit zuwies. Nun ist aber – und das ist das Entscheidende – Matisse kein Maler von Mustern. Und daher geht es in all diesen Bildern immer auch darum, der strömenden Energie der Muster etwas entgegenzusetzen und das Ornament wieder in Malerei zu verwandeln. Deshalb setzt der Künstler Figuren, Möbel und Ähnliches als Garanten von Raum mitten in die vibrierende Flächenwelt der Muster. Auf diese Art entsteht aus der körperhaften Gestalt des Menschen und der zeitlosen Dynamik des abstrakten Musters etwas ganz Neues: Das gegenständliche, aber zugleich flächentaugliche moderne Bild.
Dass darüber hinaus gerade der weibliche Körper mit all diesen schwingenden Ranken und Mustern sehr gut zur Geltung bzw. ins Gespräch kommt – das ist ein Vorteil, den Matisse sozusagen gerne in Kauf nahm. Denn so konnten seine Bilder insgesamt jene bestimmte dekorative Qualität erreichen, die dem Künstler wichtig war. Die Ausstellung der Fondation Beyeler erlaubt es, Matisse’ Vision des modernen Bildes an zahlreichen Hauptwerken zu studieren. Vertreten sind alle Werkphasen des Künstlers. Von atemberaubender Dichte sind nicht zuletzt die Werke von Matisse’ besonders radikalen Jahren der Epoche des Ersten Weltkriegs. Hier überschreitet der Künstler bisweilen die Grenze zu einer Malerei, in der das Figurative sich einer geheimnisvollen, nahezu abstrakten Sphäre nähert. Aus diesen Jahren stammen auch einige in der Ausstellung vertretene Porträts, die zum Besten gehören, was Matisse je geschaffen hat. In diesen Bildern wird ein dramatisches Ringen des Künstlers mit der Präsenz des Individuums sichtbar, das sich der dekorativen Vereinheitlichung des Bildes widersetzt.
Ganz anders dann das Menschenbild in den Jahren nach Matisse’ Umzug nach Nizza, ab 1919: In diesen – seinen vielleicht sinnlichsten – Bildern macht der Künstler seine Leinwände zu künstlichen Paradiesen aus Mustern, Stoffen und orientalischen Requisiten. Sie werden von rehäugigen Schönheiten bevölkert, die sich – gründlich von jeder Individualität befreit – als Fiktionen ewiger Musse im Zwischenreich zwischen Fläche und Raum räkeln. Die Ausstellung gipfelt im grossartigen Spätwerk – den letzten Interieurs und den finalen Scherenschnitten. In diesen «Papiers découpés» findet sich übrigens auch – worauf Daniel Kramer aufmerksam gemacht hat – ein letzter, überraschender Höhepunkt des erwähnten Dialogs zwischen Frauenkörpern und ornamentalen Bildgründen: Nun sind es die aus bemaltem Papier herausgeschnittenen Körper selber, die sich mit dem weiss bleibenden Bildgrund zu einem figürlichen Ornament aus Farbe und Licht verzahnen.
Angesichts dieses stupenden, unerhört dichten und so inspirierenden Œuvres eines der ganz Grossen der Malerei fällt einem eine etwas merkwürdige Frage ein: «Darf Kunst denn glücklich machen?» – Die Antwort, so viel Voraussage sei riskiert, dürfte in der Ausstellung positiv ausfallen. Denn auf diesem Niveau mündet die Kunst, das Glück zu malen, in die Möglichkeit, es im Bild zu finden. Wir müssen nur genau hinschauen.

Junge Kunst in Baden-Baden

Neue Malerei – Erwerbungen 2002-2005
25.02. – 25.06.2006 | Museum Frieder Burda

Wohin entwickelt sich die Kunst im 21. Jahrhundert? Die Ausstellung «Neue Malerei. Erwerbungen 2002 – 2005» mit Arbeiten aus der Sammlung Frieder Burda bezieht Position zum Thema junge Kunst.

Damian Loeb, Darling, 2005
Damian Loeb, Darling, 2005
Seit einigen Jahren widmet sich der Baden-Badener Sammler Frieder Burda verstärkt der Kunst der jungen Malergeneration, etwa den deutschen Künstlern Karin Kneffel, Dirk Skreber, Tim Eitel, Anton Henning, Corinne Wasmuht oder Heribert C. Ottersbach. In der Ausstellung sind rund achtzig Arbeiten vertreten, die Frieder Burda in den Jahren 2002 bis 2005 erworben hat. Dem viel beschworenen Ende der Malerei in den 1970er und 1980er Jahren zum Trotz bietet das analoge Medium den Künstlern erneut vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten. Die Werke erschöpfen sich jedoch keinesfalls in einer Wiederbelebung traditioneller malerischer Positionen. Die Künstler sind bestens mit den parallel im Kunstbetrieb präsenten Formen der abstrakten Kunst, der Fotografie, des Films sowie der Konzeptkunst vertraut.
Dieses Wissen fliesst, auf den ersten Blick unbemerkt, in die Werke ein und führt so zu einer Neuinterpretation des Mediums Malerei. Die häufig zufällige Wahl der Bild-Gegenstände öffnet den Blick auf den Malprozess und stellt so die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Wiedergabe von Realität durch Kunst. Die einzige Wahrheit, so glaubt etwa Karin Kneffel, liegt in der Malerei selbst. In Bilderserien variiert sie ein Motiv auf der Suche nach immer neuen Wegen, dieses Medium zu erforschen. Das Motiv selbst, seien es Trauben, ein Hund oder ein Tisch, ist dabei nahezu bedeutungslos.
Die Ausstellung «Neue Malerei aus der Sammlung Frieder Burda» ist erstmals eine zusammenhängende Präsentation der jungen Malerei, die Frieder Burda erworben hat. Mit der Auswahl, die der Sammler getroffen hat, stellt sich das Museum dem aktuellen Diskurs der Malerei. Die Ausstellung wird von Götz Adriani, Mitglied im Vorstand der Stiftung Frieder Burda, und Frank Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums Frieder Burda – kuratiert.
Der Malprozess rückt so vor den Bildgegenstand in den Vordergrund. Der Betrachter erliegt einem faszinierenden Vexierspiel: Mal treten die Spuren des Malprozesses, mal der Bildgegenstand in den Vordergrund.
Deutscher Expressionismus: Parallel zur Neuen Malerei zeigt das Museum im «Bilderwechsel IV» bis zum 25. Juni Arbeiten des deutschen Expressionismus. Ein Jahrhundert ist seit der Gründung der Künstlergruppe «Die Brücke» im Jahr 1905 in Dresden vergangen. Die Werke von Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff wie auch die ihrer süddeutschen Generationsgenossen vom Blauen Reiter haben nichts von ihrer ursprünglichen Frische, Spontaneität und Farbintensität verloren. Gemälde aus der Sammlung Frieder Burda, ergänzt um Leihgaben aus dem Familienbesitz, spiegeln den malerischen Aufbruch des deutschen Expressionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer intimen, 24 Gemälde umfassenden Ausstellung.

Aus den Büchern des Lebens

Eva Aeppli – «Livres de vie»
25.01. – 30.04.2006 | Museum Tinguely Basel

1953 verliess die Künstlerin Eva Aeppli an der Seite von Jean Tinguely die Stadt Basel in Richtung Paris. Die erste Frau Tinguelys schuf Zeichnungen, Gemälde, Figuren und Bronzeköpfe und dokumentierte ihr Leben und das ihrer Freunde in Lebensbüchern, «Livres de Vie», die im Museum Tinguely erstmals gezeigt werden.

Von Andres Pardey

Als Eva Aeppli 1953 mit Jean Tinguely nach Paris zog, liess sie in Basel vieles zurück. Ihr Elternhaus mit den zwei Brüdern Christoph und Vital, eine anthroposophisch geprägte Kindheit und Jugend, politisch und gesellschaftlich wache und aufmerksame Eltern, die den Kindern die Schrecken der Naziherrschaft in Deutschland nicht verheimlichten. Dann aber auch ihre beiden Kinder, Felix Leu, den sie mit ihrem ersten Mann, dem Architekten Hans-Felix Leu gehabt hatte, und Miriam Tinguely, die Tochter von Eva und Jean. Sie blieb bei Jeans Eltern und wuchs in Bulle auf. Eva und Jean kamen in eine Stadt, deren Kunstleben äusserst bewegt war. Und Jean stürzte sich gleich hinein, wurde Teil dieser Kunstszene, und fand schnell Anschluss an den Kreis jener Künstler, die später als Nouveaux Réalistes in die Geschichtsbücher eingehen sollten. Paris wurde zu seinem Tummelplatz, hier fühlte er sich wohl. Ganz anders Eva. Als sie 1955 in das Atelier im Impasse Ronsin zogen, wurde die Künstlerkolonie zu Tinguelys Heimathafen – und zu ihrem Versteck. Sie zog sich zurück, wollte nichts wissen von den Künstlern und schon gar nicht von der Kunstszene. Der junge Fotograf Joggi Stoecklin, der einige Jahre das Leben im Impasse Ronsin teilte, dokumentierte das Leben von Eva und Jean und fotografierte die Zeichnungen, die in dieser Zeit entstanden. Es sind Darstellungen voller Einsamkeit und Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Kaum einen grösseren Kontrast könnte man sich vorstellen zwischen der Lebenslust, die von Tinguely und seinen Künstlerfreunden ausging, die sich an die Eroberung der Welt mit Kunst gemacht hatten, und der in sich gekehrten, unfreudigen Zeichnungen von Eva Aeppli. Ihre Kunst war der Gegenentwurf zu alledem, was unbeschwert und fröhlich-anarchisch um sie herum brodelte, zu diesen Weltentwürfen von Yves Klein, diesen Kunstrevolutionen Tinguelys und den theoretischen Interpretationen von  Pierre Restany und  Pontus Hulten. Während Tinguely bereits 1955 Stockholm und Mailand eroberte, trat Eva wohl manche Reise nach innen an, um den Ängsten und der Verzweiflung zu wehren. In dieser Zeit entstanden die ersten Bände der «Livres de Vie». Die erste Doppelseite des ersten Bandes zeigt die untere Hälfte des Plakats zur ersten Ausstellung von Eva, die  – das einzige Mal überhaupt – unter dem Namen «Tinguely» in einer Pariser Galerie im Januar 1954 ihre Zeichnungen zeigte. Auf der linken Seite sind Fotos eingeklebt, von Tinguely und Daniel Spoerri, diesem so wichtigen Freund der ersten Jahre in Paris. Ein Foto von Eva mit ihrem ersten Mann Hans-Felix Leu sowie ein Manuskript, das anlässlich einer Eröffnung einer Tinguely-Ausstellung in Düsseldorf gelesen wurde. Der Text stammt von Spoerri und beinhaltet Passagen wie: »… tinguelys frau heisst eva. alles, auch seine apparate sind ihm gleichgültiger als seine frau eva. seine frau ist vielleicht das einzige, das ihm wirklich nicht gleichgültig ist…». Ein Jahr später, 1960, trennten sich die zwei Künstler, Tinguely lebte in der Folge mit Niki de Saint Phalle, und Eva heiratete den amerikanischen Anwalt Samuel Mercer, mit dem sie in der Nähe von Paris und in Omaha (Nebraska) lebte. Die Freundschaft mit Tinguely und mit Niki aber überdauerte diesen Bruch und ist in ihrer ganzen Intensität in den «Livres de Vie» dokumentiert, wie auch diejenige mit anderen Künstlern, Spoerri eben, Jean-Pierre Raynaud oder mit dem Physiker François Plouin. Die Freundschaften und ihre Pflege nehmen im Leben von Eva Aeppli einen wichtigen, wenn nicht den zentralen Platz ein. Dies wird in den «Livres de Vie» spürbar und in den Werken, ihren Besitzern und den Schenkungen, die Freunde in ihrem Namen vornahmen. Auf diese Weise kam das Moderna Museet in Stockholm, dank der Vermittlung ihres Freundes und Förderers Pontus Hulten, zu seiner grossen Sammlung von zentralen Werken von Eva Aeppli. 1960 war auch künstlerisch ein wichtiges Jahr. Die Zeichnungen waren abgeschlossen, nun malte Eva Aeppli. Es entstanden grossformatige Bilder von Totenkopfflüssen, Skelettpartys und Knochentänzen. Morbid. Tot. Wie Muster breiten sich die Schädel auf der Leinwand aus, der Bildrand begrenzt nichts, gibt nur den Ausschnitt aus dem offenkundig viel grösseren Geschehen an. Und wie die Schädel Muster bilden und die Skelette Schraffuren, so verliert auch fast unbemerkt der Tod ein wenig von seinem Schrecken, Ironie schleicht sich ein oder Sarkasmus, das Hintergründige, Doppeldeutige, dieser Wille, sich immer eine Hintertür in den Witz offen zu lassen. Ab der Mitte der sechziger Jahre entstanden die Figuren, lebensgrosse Menschenfiguren aus Stoff, deren Köpfe und Hände genäht und mit Kapok gestopft wurden. Diese Figuren und Figurengruppen zeichnen sich – nebst der handwerklichen Virtuosität – durch eine höchst ausgebildete Individualität aus: Die Künstlerin schuf Charaktere, es entstanden Skulpturen, die den Menschen in all seiner Diversität schilderten. Natürlich stand Eva Aeppli mit all ihrer Kunst neben dem, was der Kunstbetrieb verlangte. Figürlich zu arbeiten, und dann auch mit Nadel und Faden, und das auch noch als Frau – dies war auch in den bewegten sechziger Jahren zu viel.
Die Künstlerin wurde kaum beachtet und regelmässig übergangen, selbstverständlich war sie nicht Teil der Nouveaux Réalistes, die Anerkennung blieb ihr weitgehend versagt. Ab der Mitte der siebziger Jahre dann entstand der vierte und letzte Werkteil: die Bronzeköpfe. Eva Aeppli hatte, nachdem sie eine Gruppe von zehn Planeten genäht hatte, erkannt, dass die Körper und Hände überflüssig seien. Der ganze Ausdruck der Figuren lag in den Köpfen, auf die sie sich in der Folge konzentrierte. Es entstanden – Eva Aeppli beschäftigte sich zu dieser Zeit intensiv mit Astrologie – die Serien der Planeten, der Sternzeichen und, als letzte Werkgruppe, diejenige der menschlichen Schwächen. Es sind Schilderungen typischer Charaktere, überzeichnet, fast karikierend, und gleichzeitig so treffend und präzise, dass ein Wiedererkennen fast schon in ihnen angelegt ist. Mit Eva Aeppli zeigt das Museum Tinguely das Werk einer Künstlerin, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ihren eigenen Weg gegangen ist und die sich nie den Zwängen des Marktes oder der Erwartung unterworfen hat. Es ist ein Werk neu zu entdecken, das voller Kraft und Eigenständigkeit seine Position behauptet.

Design der schrillen 60er Jahre

Joe Colombo – Die Erfindung der Zukunft
21.01. – 10.09.2006 | Vitra Design Museum, Weil am Rhein

Wie kein zweiter Gestalter visualisiert der Italiener Joe Colombo mit seinen funktionalen Entwürfen die Technologieverliebtheit der Nachkriegsgeneration.

Joe Colombo, Containermöbel, Combi -Center, 1963-64
Joe Colombo, Containermöbel, Combi -Center, 1963-64
In die Decke eingelassene Fernseher, schwenkbare Wände mit eingebauter Minibar, «nukleare Städte» unter der Erde – der italienische Designer Joe Colombo schuf Entwürfe, die auch aus einem James-Bond-Film seiner Zeit stammen könnten. Sie sind typisch für das Design der schrillen sechziger Jahre, beeindrucken aber zugleich durch Funktionalität und markante Formen. Als einer der erfolgreichsten Gestalter seiner Zeit entwarf Colombo Designklassiker, darunter der Sessel «Elda», der Stuhl «Universale» oder die Leuchte «Alogena». 1971 starb Joe Colombo im Alter von 41 Jahren. Die Ausstellung «Joe Colombo – Die Erfindung der Zukunft» ist die erste internationale Retrospektive, mit der das Werk Colombos gewürdigt wird.
In enger Kooperation mit dem Studio Joe Colombo entstanden, das den Nachlass des Designers verwaltet, präsentiert die Ausstellung eine Fülle bislang noch nicht gezeigter Materialien zu Joe Colombos Schaffen. Darunter sind Prototypen, experimentelle Stücke, aber auch viele originale Handskizzen, Pläne, Broschüren, Architekturmodelle, mehrere Filme und Originalfotos. In vier Gruppen gegliedert, folgt die Ausstellung der rasanten Entwicklung von Colombos kurzer Karriere und vermittelt einen anschaulichen Eindruck von seiner grossen Produktivität, die Zeitgenossen schon zu Colombos Lebzeiten faszinierte.
Der erste Bereich zeigt Colombos Frühwerk in den fünfziger Jahren. Colombo studierte bildende Kunst an der Mailänder Brera-Akademie und schloss sich Anfang der fünfziger Jahre zunächst der Bewegung der Nuklearen Malerei um Enrico Baj und Sergio Dangelo an. Schon früh interessierte er sich auch für Architektur, entwarf die Utopie einer unterirdischen, nuklearen Stadt, frequentierte die Mailänder Jazzclubs und begann, sich auch für Design zu interessieren.
Im zweiten Bereich wird der Beginn von Colombos Karriere als Designer präsentiert, die um 1962 begann. Innerhalb weniger Jahre schuf Colombo viele seiner bekanntesten Entwürfe und begann eine produktive Zusammenarbeit mit wichtigen Designunternehmen seiner Zeit, darunter Kartell, Zanotta, Stilnovo, Oluce, Alessi, Rosenthal und vielen anderen, die seine Entwürfe grossteils bis heute produzieren. Mit dem «Universale» von 1964-67 schuf Colombo einen der ersten Stühle, die komplett in einer Gussform hergestellt werden, und auch aus Schichtholz, Leder und Rattangeflecht gestaltete er formal innovative Möbel.
Im Verlauf seiner kurzen Karriere wandte sich Colombo vom Einzelentwurf jedoch immer mehr der Gestaltung ganzer Interieurs und der Suche nach modularen und flexiblen Objekten zu. Im dritten Bereich der Ausstellung werden Sitzmöbel wie der «Tube Chair» und der «Multi Chair» präsentiert, die beide auf einfachste Weise ein Maximum an unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten bieten, aber auch die vielen Containermöbel, die den Wohnraum der Zukunft als multifunktionale Einheiten prägen sollten. Colombos Vision einer rationalen Welt, in der Design auf wissenschaftlicher Recherche basieren sollte, veranschaulichen auch seine vielen Entwürfe im Bereich des Industriedesigns, darunter Autos, Uhren, Skibindungen, Gläser, Klimaanlagen sowie das Bordservice für die italienische Fluglinie Alitalia.
Vier ausgewählte Projekte aus Colombos letzten Schaffensjahren zeigen im vierten Bereich der Ausstellung, wie der Designer es 1969 bis 1971 schaffte, die Synthese aller seiner zuvor entwickelten Ideen zu verwirklichen. In futuristischen Interieurs wie der Visiona 1, seinem eigenen Appartement von 1970 und dem Total Furnishing Unit von 1971 verschmolz Colombo die einzelnen Objekte des Wohnraums zu komplexen, multifunktionalen «Wohnmaschinen», die sich den Bedürfnissen und Wünschen des Menschen anpassen sollten. Mit diesen Entwürfen, die ihrer Zeit in vielem weit voraus waren, schuf Colombo Ikonen des futuristischen Designs der sechziger Jahre.