Prière de Toucher – der Tastsinn der Kunst

12. Februar – 16. Mai 2016
Museum Tinguely, Basel

 

Roland Wetzel, Direktor Museum Tinguely
Roland Wetzel, Direktor Museum Tinguely

Von Roland Wetzel*
Das Museum Tinguely verfolgt das Projekt einer Ausstellungsreihe, mit der es die komplexe Thematik der fünf menschlichen Sinne und ihrer Darstellung in der Kunst bis zur Gegenwart beleuchtet. Die erste Ausstellung wurde 2015 unter dem Titel Belle Haleine – Der Duft der Kunst eröffnet und wird dieses Jahr mit PRIÈRE DE TOUCHER – Der Tastsinn der Kunst fortgesetzt. Diese widmet sich dem faszinierenden Phänomen der haptischen Wahrnehmung und bricht mit der üblichen musealen Praktik, vornehmlich den Sehsinn des Besuchers anzusprechen.

Die Ausstellung rückt den Tastsinn und das haptische System als Möglichkeit ästhetischer Wahrnehmung ins Zentrum und wirft dabei eine Reihe von Fragen auf: Wie nehmen wir taktile Kunst wahr? Was geschieht, wenn unsere Haut plötzlich die Hauptrolle beim Erleben von Kunst spielt? Können Kunstwerke auch ohne direkten physischen Kontakt zum Betrachter dessen Tastsinn ansprechen? Lassen sich taktile Erfahrungen beschreiben und in Bilder übersetzen? Werke aus ganz unterschiedlichen Zeiten zeugen von einem Kunstverständnis, das die taktile Dimension mit einschliesst. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird Taktilität zunehmend zu einem bewusst eingesetzten Gestaltungselement.

Jeroen Eisinga, Springtime, 2010-2011, 35 mm Film in HD übertragen, Courtesy of the artist © 2016, Jeroen Eisinga
Jeroen Eisinga, Springtime, 2010-2011, 35 mm Film in HD übertragen, Courtesy of the artist © 2016, Jeroen Eisinga

Der Tastsinn ist unser erster und ältester Sinn. Er arbeitet als «Nahsinn» auf kleinster Distanz durch direkten Körperkontakt. Die Haut ist unser grösstes Organ. Sie ist für die Erfassung der uns umgebenden Realität grundlegend. Abhängig vom historischen, geografischen und kulturellen Kontext wird der Tastsinn mal als der primitivste, mal als der existenziellste und komplexeste Sinn beschrieben. Primäre Organe des Hautsinnes sind die Hände, insbesondere die Fingerspitzen. Aber auch die Lippen und die Zunge haben eine Vielzahl an Sinneszellen.

Aristoteles ordnete die Sinnesempfindungen kalt, warm, trocken und feucht den vier Elementen zu. Entsprechend der Materialbeschaffenheit kann weiter zwischen hart, weich, rau und glatt unterschieden werden. Neben den Mechano- und Thermorezeptoren ist unsere Haut auch mit Nozirezeptoren ausgestattet, die uns Schmerz signalisieren. Die Haut birgt ganz verschieden organisierte Sinnessysteme. Berührungsreize können Behagen oder Unbehagen auslösen und sind mit Intimität und Emotionalität verbunden.

Der Hautsinn ist unser vielseitigster und elementarster Sinn. Ohne ihn sind wir nicht lebensfähig. Ohne die Hand als Werkzeug gibt es auch keine Kunst. Kunst zu schaffen, setzt in doppeltem Sinne Berührung voraus.

PRIÈRE DE TOUCHER im Museum Tinguely ist als Parcours angelegt, der vielfältige Tast-, Seh-, und sinnenhafte Denkerfahrungen ermöglicht. Die Ausstellung bietet zahlreiche Möglichkeiten für direkten Körperkontakt und interaktives Erleben, die Mehrheit der Exponate ist gleichwohl dem «taktilen Auge» vorbehalten.

In Kooperation mit der Skulpturhalle Basel, Abguss-Sammlung des Antikenmuseums, werden Gipsabgüsse antiker Skulpturen aus vier Jahrhunderten gezeigt, die unter Anleitung mit verbundenen Augen ertastet und in ihrer schematisch-reduzierten bis naturalistischen Körperlichkeit erfahren werden können.

Glauben braucht Berührung und Berührungen sind eine Art Gottesbeweis. In Religionen sind Berührungspraktiken omnipräsent. In der Ausstellung sind Objekte aus verschiedenen Religionen und Weltgegenden versammelt, die von geis-tigen und körperlichen Berührungen auf der Suche nach Heil und von der Haut als ihrem Vermittlungsorgan erzählen. Alle Objekte machen deutlich, dass sich geistige von körperlichen Berührungen nicht trennen lassen.

Jan van Munster, Light and Heat, 2000 / 2001, International Light Art Centre, Unna, Deutschland © 2016, ProLitteris, Zürich; Foto: Wolfgang Lukowski
Jan van Munster, Light and Heat, 2000 / 2001, International Light Art Centre, Unna, Deutschland © 2016, ProLitteris, Zürich; Foto: Wolfgang Lukowski

Das allegorische Sujet der fünf Sinne erfreute sich in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts wachsender Beliebtheit. Insbesondere in Flandern und den Niederlanden entwickelten sich typische Darstellungsweisen sinnlicher Erfahrung, die als druckgrafische Zyklen europaweit Verbreitung fanden. Inspiriert von het gevoel des Antwerpeners Frans Floris kombinierten zahlreiche Künstler eine am Seeufer sitzende Frauengestalt, in deren ausgestreckter Hand ein Vogel pickt, mit Abbildungen von als besonders sensibel oder bissig geltenden Tieren wie Spinnen oder Schildkröten, Schlangen oder Skorpionen. Doch nicht jede Allegorie verknüpft haptisches Erleben mit Schmerz – Abraham Bosses Serie Die Fünf Sinne hebt die erotische Dimension des Berührens hervor und lässt in ihrer Erzählung von der verführerischen Kraft der Sinnesfreuden den Tastsinn den krönenden Schlusspunkt bilden.

Einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden über zehn Werke Duchamps, von denen Prière de toucher, das Katalogcover der Surrealismus-Schau von 1947 mit einer realistisch geformten weiblichen Brust aus Schaumstoff, der Ausstellung ihren Titel gegeben hat. Duchamp war der Tastsinn privilegierter Sinn für pluridimensionale räumliche Erfahrungen. Im Liebesakt sah er eine Sublimation des Taktilen in der Einschliessung der vierten Dimension. Duchamps künstlerische Recherchen waren aber nicht nur die eines Erotomanen oder Junggesellen auf der Suche nach der Braut. Sein Werk zeichnet über viele Jahre hellsichtige Forschungen über Verfahren des (Körper-)Abdrucks, der Reproduktion, der Ähnlichkeit, der Kopie und der Anverwandlung aus. Auch diesen Aspekten trägt die Präsentation mit einer Auswahl weiterer Werke Duchamps Rechnung. Alberto Giacometti ist mit zwei «taktilen» Plastiken aus seiner surrealistischen Zeit, dem Objet désagréable und dem Objet désagréable à jeter vertreten. Von Man Ray ist eine Reihe von Fotografien zu sehen, darunter auch eine Abbildung der Pelztasse von Meret Oppenheim, textile Körperverhüllungen (L’énigme d’Isidore Ducasse und Anatomies) sowie ein Porträt Lee Millers mit Giacomettis Objet désagréable in Händen. Le Cadeau, Man Rays stachelbewehrtes Bügeleisen, das nicht mehr pflegt und glättet, sondern aufreisst und zerstört, entstand in surrealistischer Verfremdung. Es übt eine körperliche Wirkung aus.

Die Anthropometrie sans titre von Yves Klein entstand im Rahmen einer Performance, bei der nackte, weibliche Modelle Farbe auf ihren Körper auftrugen, um durch Anpressen einen Körperabdruck auf der Leinwand zu hinterlassen.

Das fliessende und prozessuale der taktilen Erfahrung kommt in einem Medium besonders gut zum Tragen: dem Film. Je ein Film bildet Auftakt und Abschluss der Ausstellung. Javier Téllez’ Video Letter on the Blind, For the Use of Those Who See zeigt die grossartigen Möglichkeiten, mit der Kamera taktile und texturelle Erfahrungen zu machen, während man Blinde beim Ertasten eines Elefanten begleitet. Artur ˙Zmijewskis Video Blindly dokumentiert den Malakt blinder Menschen als faszinierenden haptischen Prozess.

Rund 40 Filme und Videos bilden ein weiteres Rückgrat der Ausstellung, mit einem Fokus auf körperorientierten und feministischen Positionen und Dokumentationen von Performances der 1960er- und 1970er-Jahren, darunter Marina Abramovic & Ulay, Vito Acconci, Renate Bertlmann, Stan Brakhage, Chris Burden, Peter Campus, Valie Export, Bruce Nauman, Ewa Partum und Carolee Schneemann, malerische Exerzitien der Wiener Aktionisten Günter Brus und Otto Muehl, und vielfach politisch und gesellschaftskritisch motivierte Performances von Tania Bruguera, Regina José Galindo und Rosemberg Sandoval.

Den Körper als skulpturales Material verwendet Hannah Villiger in ihren aus Polaroid-Nahaufnahmen vergrösserten Fotografien. Aber auch Pipilotti Rist schafft mit dem Video Pickelporno ein Kaleidoskop berauschender Körperbilder, deren Close-ups auf Körperlandschaften ein Fest taktilen Erlebens zelebrieren.

Auch Jean Tinguely ist in der Ausstellung vertreten: mit einer Hommage an den mit Luftballons gefüllten Raum, den er für die Ausstellung Dylaby (dynamisches Labyrinth) 1962 im Stedelijk Museum in Amsterdam realisierte.

Weitere Arbeiten, die auf unterschiedliche Weise direkte körperliche Interaktion ermöglichen, sind Augustin Rebetez’ labyrinthischer Parcours, der die Besucherinnen und Besucher durch zahlreiche Kammern und Räume auf eine poetische und sinnliche Reise mitnimmt, Ernesto Netos Humanóides, Anzüge aus Lycra-Stoff, die angezogen werden dürfen, und Louis-Philippe Demers The Blind Robot, der vor ihm sitzende Personen abtastet. Die Ausstellung wird begleitet von zahlreichen thematischen und allgemeinen Führungen, interaktiven Familiensonntagen, Skulpturen-Workshops mit dem Künstler Pedro Wirz und Rundgängen speziell für Sehbehinderte.

Am 8. und 9. April 2016 findet ein interdisziplinäres Symposium statt, mit Experten aus Kunst, Architektur, Religionswissenschaft, Medienwissenschaft, Ethnologie, Anthropologie, Kulturwissenschaft, Medizin und Neurobiologie. Ein Sammelband wird dessen Ergebnisse zusammenfassen. Ebenso ist bereits ein Sammelband zum Symposium
Belle Haleine – Der Duft der Kunst erschienen.

*Roland Wetzel ist Direktor des Museum Tinguely

Die Ausstellung enthält Bilder und Videos mit Nacktheit und sexuellem Inhalt, die nicht für alle Besucherinnen und Besucher geeignet sein könnten.