Soutine und die Moderne
16.03.2008 – 06.07.2008 | Kunstmuseum Basel
Von Nina Zimmer*
1893 in der weissrussischen Provinz geboren, musste sich Soutine mit seinem Wunsch, Künstler zu werden, gegen heute unvorstellbare, zum Teil religiös bedingte Vorurteile durchsetzen. Das Dorf Smilovitchi in der Nähe von Minsk, in dem Soutine aufwuchs, gehörte bis zur Oktoberrevolution 1917 zum litauischen Teil von Weissrussland. Die Bevölkerung war mehrheitlich jüdischer Abstammung, so auch die Eltern von Soutine. Der Vater Salomon war ein Flickschneider. Der Alltag im Schtetl war geprägt von harter Arbeit und existenzieller Not, aber auch von den strengen Regeln des jüdischen Glaubens. Das Bilderverbot ist fest verankerter Bestandteil der jüdischen Kultur, wenngleich in Smilovitchi auch eine ganz spezifische und eindrückliche Form der Volkskunst verbreitet war. Bereits als kleiner Junge verspürte Chaïm Soutine einen unwiderstehlichen Drang zum Gestalten und Malen. Der Vater wünschte, dass er ein Handwerk, zum Beispiel Schuster oder Schneider, erlernte, doch Chaïm Soutine schlug einen anderen Weg ein. 1910 schrieb er sich zunächst an der Akademie in Vilnius ein, wo er ein regelrechtes Kunststudium aufnahm. Drei Jahre später wagte Soutine den Sprung nach Paris, in die Schaltzentrale der europäischen Avantgarden Anfang des 20. Jahrhunderts.
Aber auch ein Maler wie Jean Dubuffet war nach dem Besuch der Soutine-Ausstellung in der Galerie de France Anfang 1945 hellauf begeistert und verteidigte Soutines Werke gegen den Vorwurf, es handle sich um eine traurige Kunst, mit dem Hinweis, dass auch ein Picasso mitunter nicht anders wirke: «L’exposition Soutine est extrêmement passionnante. Surtout les poulets. Il est complètement faux que ce soit un art désolé. C’est plain d’exaltation, jusqu’au délire, pas plus désolé que les monstres de Picasso ne sont désolés. Tout le contraire: transe mystique, jubilation. C’est solaire […]»
Diese intensive malerische Qualität Soutines, die von einer bis heute faszinierenden Modernität ist, macht ihn zu einem der grossen Künstler des 20. Jahrhunderts. Paradoxerweise ist Soutine jedoch im gleichen Masse Visionär wie Traditionalist: Aus einer der grössten Errungenschaften der Moderne, der Freiheit des Bildsujets, machte er sich nichts: Er beschränkte sich zeitlebens rigoros auf die Trias von Stillleben, Landschaft und Porträt. Kein Bildthema Soutines ist bekannt, für das sich nicht ein Muster aus dem 17. Jahrhundert benennen liesse.
Man hat Soutine in der Vergangenheit entweder als skurrilen Einzelgänger, als «peintre maudit» isoliert oder ihn im Gegensatz dazu für verschiedene Kontexte vereinnahmt. Er ist sowohl als französischer Expressionist, Exponent einer spezifisch jüdischen Kunst oder auch als Mitglied der École de Paris eingeordnet worden – Simon Schama versuchte gar augenzwinkernd, eine Kategorie des »gastrischen Expressionismus« einzuführen, deren einziger Vertreter Soutine sei. Des Weiteren figuriert Soutine je nach Ausstellungsort mal als Vorläufer der New York School, mal des Wiener Aktionismus.
Die Ausstellung umfasst rund sechzig Werke Soutines. Durch erhellende Gegenüberstellungen mit Bildern von Soutines Freunden – Modigliani, Chagall, Utrillo – und Künstlern wie Picasso, Braque oder Munch werden gleichzeitig der künstlerische Kontext Soutines, aber auch Kontrapositionen aufgezeigt. So wird deutlich, dass Soutine vor demselben Horizont künstlerischer Fragestellungen wie seine Zeitgenossen arbeitete, auch wenn er zu hochgradig eigenständigen Bildfindungen kam, die sich raschen Klassifizierungen entziehen.
* Nina Zimmer ist seit 2006 Konservatorin für 19. Jahrhundert und Klassische Moderne am Kunstmuseum Basel und Kuratorin der Ausstellung
Die Ausstellung wurde unterstützt von:
Novartis International AG | Bank Sarasin & Cie AG | Stiftung Im Obersteg