Tatlin – neue Kunst für eine neue Welt

Tatlin.
neue Kunst für eine neue Welt
06.06.2012 – 14.10.2012
Museum Tinguely

von Gian Casper Bott*
Mit Vladimir Tatlin (1885–1953) stellt das Museum Tinguely in Basel eine legendäre Künstlerpersönlichkeit ins Zentrum seiner grossen Sommerausstellung. Tatlin ist eine der Leitfiguren der Russischen Avantgarde. Fast zwanzig Jahre ist es her, seit dieser zentrale Erneuerer der Kunst letztmals in einer umfassenden Retrospektive zu sehen war.

Präsentiert werden frühe Gemälde, raumgreifende Konterreliefs, Rekonstruktionen des revolutionären Turms und der Flugapparat Letatlin. Seine Arbeiten für das Theater runden die Ausstellung ab. Mit über 100 Meis-
terwerken vorwiegend aus den wichtigsten Sammlungen in Moskau und St. Petersburg wird Tatlin als herausragender Künstler der Zeitenwende zu Beginn des 20. Jahrhunderts umfassend vorgestellt.

Vladimir Tatlin begann seine Laufbahn als Seefahrer. Bis 1913 war er als Künstler ausschliesslich im Bereich der Malerei und Zeichnung tätig. In jungen Jahren beschäftigte er sich mit der alten russischen Ikonenmalerei und der Volkskunst, anschliessend mit den aktuellsten Strömungen der Avantgarden in Russland und Westeuropa, namentlich Paris. Seine frühen Gemälde sind in der Ausstellung umfassend vertreten. In ihrer flächig-dekorativen Farbigkeit, ihrem rhythmisch durchpulsten Kurvaturenstil, wo dunkle und helle Umrisslinien eine sonderbare Prägnanz erhalten, gelingt Tatlin eine eigenständige Synthese von russischer Tradition und französischer Avantgarde.

Konterreliefs
1914 hat Tatlin den Schritt vom Avantgarde-Maler zum revolutionären Künstler unternommen; eine Vorahnung der politischen Epochenwende, die 1917 zum Durchbruch kam, lag in der Luft. Von Tatlins  malerischen Reliefs und Eck-Konterreliefs – seinem radikalsten und weitreichendsten Beitrag zur Kunst der Moderne – ist wenig erhalten. Mit den heute noch existierenden Originalen aus Moskau und St. Petersburg und einer breiten Übersicht der nach fotografischen Vorlagen entstandenen Rekonstruktionen fokussiert die Ausstellung diesen für die Geschichte der Kunst zentralen Aspekt. Tatlins Konterreliefs, die auf einen totalen Bruch mit sämtlichen Formen des bürgerlichen Kunstbetriebs zielen, sind als «contre-attaque» im Sinne einer energischen Steigerung zu verstehen. Konstantin Umanskij schrieb 1920, der «Tatlinismus» würde behaupten, das Bild als solches sei tot: «Dem Dreidimensionalen ist es zu eng auf der Bildfläche.»

«Wir glauben nicht mehr an das Auge, wir stellen das Auge unter die Kontrolle des Tastsinns», hat Tatlin 1920 proklamiert. Mit den Konterreliefs hob er die Gesetze der Malerei aus den Angeln und schuf gleichsam eine neue Kunstgattung sowie ein neues Verständnis für das ins Werk gesetzte Material.

Revolution, Architektur und Utopie – Tatlins Turm
Wenige Kunstwerke haben im 20. Jahrhundert einen derart legendären Status gewonnen wie Tatlins 1919–20 erarbeitetes Projekt des Denkmals der III. Internationale. Die Realisierung der 400 Meter hohen Konstruktion wurde sowohl durch den Bürgerkrieg verhindert als auch durch fehlende materielle Ressourcen und die technologischen Grenzen jener Zeit. Das Monument – parallel zur Erdachse gestellt, mit vier unterschiedlich rasch nach kosmologischen Rhythmen und Gesetzen um die eigene Achse rotierenden Innenkörpern – hätte den Sitz einer hierarchisch und gerecht organisierten Regierung einer neuen sozialen Ordnung repräsentiert. Nikolai Punin pries 1920 den Entwurf «als ein internationales Ereignis innerhalb der Welt der Kunst» und sah darin «die organische Synthese der Prinzipien von Architektur, Skulptur und Malerei». Der gebaute Turm hätte die konsequente Erweiterung der in Tatlins Konterreliefs entwickelten Prinzipien von Zeit und Raum gebildet.

Der Flug des Letatlin
Den individuellen Träumen einer kollektiv normierten Gesellschaft verlieh Tatlin 1929/1932 mit der visionären Flugplastik Letatlin Ausdruck. Für den Künstler, der einen Hang zur Mystifikation hatte, war das Fliegen so etwas wie eine im Zuge der Evolution verlorengegangene menschliche Urerfahrung, die er für den modernen Menschen wiedererlangen wollte. Letatlin – ein Flugapparat mit einer singulären Synthese aus Kunst, Technik und Utopie – kann als Kulmination und Endergebnis einer Erforschung des Plastischen und seiner Grenzen gelten, die in der Zarenzeit mit den Konterreliefs begann und im revolutionären Turmmodell gedanklich ins Monumentale gesteigert worden war.

Das Theater als Bühne der neuen Welt
Tatlins Beschäftigung mit dem Theater währte sein ganzes Leben. Autobiografische Bezüge sind in Tatlins Leidenschaft für Richard Wagners Oper Der Fliegende Holländer evident. Der Eindringlichkeit der musikalischen See- und Seelenlandschaften versuchte Tatlin ein spätromantisch-rayonistisches Äquivalent in Malerei gegen-

überzustellen, Klangfarbe in Farbklang voller dramatischen Odems zu überführen. Der Höhepunkt in Tatlins Schaffen für das Theater repräsentiert seine 1923 erfolgte Inszenierung von Velimir Chlebnikovs futuristischem Metapoem Zangezi. Tatlin beschloss, «neben die Wortkonstruktionen eine Materialkonstruktion zu setzen». Sprachmaterial der Dichtung und stoffliches Material der bildenden Kunst waren für ihn zwei Artikulationen derselben Weltenergie. Das avantgardistische Zangezi-Experiment fesselte durch Lautäquivalenz und synästhetische Entsprechung von Klängen, Farben, Texturen und Licht.
Heute fasziniert Tatlin mit seinem stets auf Veränderung zielenden und niemals den gesellschaftlichen, Gesamtzusammenhang ausser Acht lassenden Werk, weil er vor bald einem Jahrhundert die Grundlagen für Strömungen setzte, die in der Gegenwartskunst nach wie vor relevant, von inspirierender Kraft und lebendiger Aktualität sind.

*Gian Casper Bott ist Gastkurator der Ausstellung.

 

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