Prière de Toucher | 11.02.2016 – 16.05.2016
Museum Tinguely
Von Sibylle Meier, Basel
Bekäme ein von Geburt an blinder Mensch die Möglichkeit zu sehen, könnte er dann mit den Augen einen Würfel oder eine Kugel erkennen, deren Form er zuvor „nur“ über die Hände ertasten konnte? Dieses erkenntnisphilosophische Problem, das 1688 als sogenanntes Molyneux-Problem in die Geschichte eingegangen ist, hat einen breiten Diskurs ausgelöst.

Wie nehmen wir wahr; was können wir erkennen; welche Sinne führen zu „wahrem“ Kunstgenuss? Das Museum Tinguely hat eine Ausstellungsreihe angestossen, die sich diesen Fragen widmet. Nach Belle Haleine – der Duft der Kunst von 2015 über den Geruchssinn, folgt nun der zweite Streich, mit der Ausstellung Prière de Toucher – der Tastsinn der Kunst, die sich dem Tastsinn zuwendet. Lange Zeit galten nur die Fernsinne Auge und Ohr als wahre Rezeptoren für den Kunstgenuss. Dass wir gut daran tun, unser Spektrum zu erweitern, zeigt der spannende Parcours im Museum Tinguely. Nicht von ungefähr beginnt die Schau mit der Arbeit Letter on the Blind, For the Use of Those Who See aus dem Jahre 2007 von Javier Téllez. In diesem Video ertasten fünf blinde Menschen einen Elefanten und berichten darüber, was sie mit ihren Händen sehen. Die Erfahrungen könnten unterschiedlicher nicht sein, und genau diese Erkenntnis wird programmatisch für den Rundgang, der die Besucherinnen und Besucher anschliessend erwartet. Sehen wir wirklich nur mit unseren Augen? Sehen wir alle dasselbe? Berührung bedeutet Kontakt herstellen, wir gehen vom Ich ins Du. Der Tastsinn erweitert, auf elementare Weise, unser Erfahrungsrepertoire. Wir wollen berühren, was wir sehen, einen Raum mit unserem Körper durchmessen. Und wir wollen berührt werden, Bestätigung für unser Dasein haben oder uns umgekehrt abgrenzen von Dingen, die unsere Grenze überschreiten.
Prière de Toucher – der Tastsinn der Kunst ist eine breit aufgefächerte Schau, die sich dem Taststinn auf unterschiedlichsten Ebenen widmet. Von religiösen Praktiken des Berührens über die barocke Allegorie hin zur künstlerischen Avantgarde um Marcel Duchamp (dem Titelgeber der Ausstellung) gewinnt der Besucher einen tiefen Einblick in die künstlerischen Möglichkeiten, die mit dem Tastsinn verbunden sind. Unterdrückung beispielsweise funktioniert oft über den Körper, und so erstaunt es nicht, dass viele Künstlerinnen sich schonungslos ihrem eigenen Körper zuwenden, um mit ihren Performances auf politische Probleme aufmerksam zu machen.

Anstelle von Aufmerksamkeit erzeugen kann man auch versuchen, zu verhindern, dass Dinge in Vergessenheit geraten. Dafür interessiert sich der Swiss Award Gewinner 2015, Pedro Wirz. Er widmet sich mit seinen Porträtköpfen der Oral History. Die Arbeit dreht sich um den Mund, um Geschichten von Menschen und über vergessene Kulturen. Auch dies eine akkustische Form des Berührtwerdens. Er hört sich Geschichten an und schreibt gleichzeitig an einer eigenen Geschichte. „Ich esse die Geschichten und verdaue sie“ wie er selber sagt.
Louis Philippe Demers kehrt mit seiner Arbeit The Blind Robot von 2012 das Prinzip des Tastsinns um. Roboter beginnen zunehmend soziale Aufgaben zu übernehmen, etwa in der Pflege von hilfsbedürftigen Menschen. Um solche Maschinen zu entwickeln müssen sie taktile Erfahrungen am Menschen machen. Wie sich dies anfühlt können die Besucherinnen am eigenen Leib erfahren.
Das Geheimnis des Molyneux-Problems wurde übrigens im Jahre 2011 von einer Forschungsgruppe des MIT gelüftet (näheres unter: https://news.mit.edu/2011/vision-problem-0411). Unsere Hände können die Augen nicht in gleichem Mass ersetzen. Was wir sehen und was wir ertasten führt in zwei verschiedene Welten.