Archiv der Kategorie: Kunstmuseum Basel

Piet Mondrian – Barnett Newman – Dan Flavin

Piet Mondrian – Barnett
Newman – Dan Flavin
08.09.2013 – 19.01.2014
Kunstmuseum Basel

BürginVon Bernhard Mendes Bürgi

Ausgangspunkt ist eine Gruppe von Gemälden, die zwischen 1919 und 1921 entstanden sind, in denen Piet Mondrian (1872–1944) pionierhaft seine vom Kubismus inspirierten Bezüge zur sichtbaren Wirklichkeit verlässt. Diese ikonenhaft verdichteten Tafelbilder der Pariser Jahre beschränken sich ausschliesslich auf die Verwendung horizontaler und vertikaler Linien sowie die drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau und die Nicht-Farben Schwarz, Weiss und Grau. Mondrian nannte seine Form der Abstraktion «Neue Gestaltung», mit der er nach einer Anwendbarkeit auf alle Lebensbereiche suchte und das «reine Sehen des Universalen» offenbaren wollte, das über die Malerei hinausreicht. Obwohl Mondrian in der Theorie für seine letztlich symbolistische Farbgebung mathematische Exaktheit in Anspruch nahm, lotete er die asymmetrisch rhythmisierten Beziehungen von Lineatur und Farbfläche während des Malprozesses intuitiv aus, was insbesondere in häufigen Übermalungen zum Ausdruck kommt. Diese malerischen Subtilitäten bewirken, dass die von calvinistischer Kargheit und mystischer Weltsicht geprägten Kompositionen nie schematisch und glatt, sondern strahlend direkt wirken. Den Abschluss von Mondrians Werkgruppe bilden Gemälde, die zwischen 1937 und 1942 in Paris, London und New York entstanden sind. In ihnen dominiert das strukturelle Feld der schwarzen Lineaturen auf weissem Grund, die in New York City I, 1941, auf experimentelle Weise zum Teil durch farbig bemalte Papierstreifen ersetzt werden.
Barnett Newman (1905–1970) wollte 1948 in seinem Manifest The Sublime Is Now seine Position antithetisch zur europäischen Abstraktion herausarbeiten und urteilte programmatisch über Mondrians Kunst, sie versetze einen mittels einer repräsentativen Darstellung der mathematischen Äquivalente der Natur in eine sinnlich makellose Welt. Die amerikanischen Maler hingegen,

Dan Flavin, untitled (to Barnett Newman) four, 1971, Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich © 2013, Pro Litteris, Zürich
Dan Flavin, untitled (to Barnett Newman) four, 1971, Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich © 2013, Pro Litteris, Zürich
Newman dachte auch an seine Malerkollegen des Abstrakten Expressionismus wie Mark Rothko, würden mit nichts beginnen, was auf physikalische, visuelle oder mathematische Gewissheiten zurückverweist. Newman wollte die Farbe von ihrer kompositionellen Unterordnung und allen sonstigen Prinzipien lösen, sie zum massgeblichen Ausdrucksträger werden lassen und geradezu «erschaffen». Diese befreiende Entfaltung der Farbe auf teilweise riesigen Bildformaten zielte auf die metaphysische Erfahrung des Erhabenen, die Newman mit dem Begriff des «Sublimen» umschrieb. Der Schritt zur formlosen Monochromie wäre naheliegend gewesen, aber Newman setzte schmale, meist vertikale Streifen, die das Gemälde durchlaufen, als akzentuierende Elemente in das Farbkontinuum. Diese «zips», wie er sie nannte, sind mehr rhythmisierende Andeutungen als exakte Lineaturen, welche die Farbfelder unterteilen und sie gleichzeitig verbinden.
Dan Flavin (1933–1996) verzichtete in den frühen 1960er-Jahren auf Malerei und Skulptur. Er nahm eine faktische Haltung ein und schuf, anderen Minimalisten wie Donald Judd oder Carl Andre ähnlich, ein Instrumentarium, das sich primär auf die serielle Anordnung von Objekten mit einfacher Form und karger Stofflichkeit in einem bestimmten räumlichen Kontext beschränkt. Flavins Licht-installationen kombinieren sich aus genormten handelsüblichen Leuchtstoffröhren und ihren dazugehörigen Halterungen, die einen architektonischen Raum je nach Wahrnehmung strukturieren oder ihn durch die physische Präsenz des Lichtschimmers auflösen. In untitled (to Barnett Newman) four, 1971, steht die rektanguläre Anordnung von primärfarbenen Röhren übereck. Die horizontal angeordneten gelben Röhren strahlen frontal, die vertikal angebrachten blauen Röhren seitlich in den Raum und die für den Betrachter nicht sichtbaren roten lösen die Eckzone zu einer Resonanzfläche in Rosa auf. Licht, Linie und Farbe sind zur untrennbaren «Erscheinung» verschmolzen, die frei von Rahmen oder Sockel den realen Raum besetzt. Die repetitiv eingesetzten Elemente sind ganz dem Alltagsleben und der industriellen Produktion verpflichtet und verneinen – trotz Lichtmagie – jene werkübergreifende metaphysische Dimension, die Mondrian und Newman eint.
Barnett Newman, Eve, 1950, Tate, London, Ankauf 1980 © 2013, Pro Litteris, Zürich
Barnett Newman, Eve, 1950, Tate, London, Ankauf 1980 © 2013, Pro Litteris, Zürich
Dieser Ausstieg Flavins aus dem klassischen Tafelbild und seine Hingabe an den Realraum waren eine zeittypische Äusserung der 1960er-Jahre, in denen gar der Tod der Malerei erklärt wurde. Gleichzeitig spielte Flavin in seinen Untertiteln beziehungsweise Widmungen auf die Heroen der abstrakten Malerei an und verwies unter anderem auf die Bedeutung der Primärfarbentrias Rot, Gelb und Blau, wie sie Mondrian verabsolutiert und Newman gefürchtet hatte. Denn der Titel von Newmans vierteiliger, monumentaler Gemäldefolge Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue zielte weniger auf den Betrachter, der von der Macht der Farbe überwältigt wird, als vielmehr auf den Künstler selber, der erst am Ende seiner künstlerischen Laufbahn – von 1966 bis 1970 – die Wirkungskraft dieses Urthemas der puristischen Moderne anzugehen wagte. Aufschlussreich ist, dass Newman nicht nur die Minimalisten mit seiner reduktionistischen Einfachheit beeindruckte, sondern die Minimalisten wiederum das Spätwerk Newmans beeinflussten, was etwa im nicht expressiven Auftrag von ungemischter Acryl- statt Ölfarbe zum Ausdruck kommt, der eine kompakte Oberflächenwirkung erzeugt, sowie in der scharfkantigen Geschlossenheit der «zips». Das Verbindende zwischen diesen herausragenden Künstlern des 20. Jahrhunderts ist wohl die Radikalität, mit der sich Mondrian, Newman und Flavin jeweils auf die elementaren Gestaltungsmittel konzentriert haben und kühn zu künstlerischem Neuland vordrangen. Das Kunstmuseum Basel besitzt von allen drei Künstlern zentrale Arbeiten: Erwähnt seien Piet Mondrians Composition No. I, mit Rot und Schwarz, das Marguerite Arp-Hagenbach 1968 der Öffentlichen Kunstsammlung schenkte, Day Before One, das 1959 als erstes Werk von Barnett Newman in eine Museumssammlung gelangte, oder die permanente ortsspezifische Lichtinstallation untitled (in memory of Urs Graf), die Dan Flavin 1972 für den Innenhof des Kunstmuseums Basel konzipierte (Ausführung 1975). Diese vertrauten Werke bilden das Rückgrat der Ausstellung und werden gezielt um bedeutende Leihgaben aus wichtigen Museums- und Privatsammlungen in Europa und den USA ergänzt.

Ausgewählte Picasso-Trouvaillen

Bei ihren Recherchen für die laufende Ausstellung «Die Picassos sind da!» im Basler Kunstmuseum sind die beiden Co-Kuratorinnen Anita Haldemann und Nina Zimmer in Basler Sammlungen auf überraschende und teilweise noch nie öffentlich gezeigte Werke gestossen. Auf den folgenden Seiten stellen sie einige dieser Kostbarkeiten in Kombination mit Werken aus der eigenen Sammlung vor. Aufgezeichnet von Sibylle Meier

Die Picassos sind da!
Eine Retrospektive aus
Basler Sammlungen
17.03.2013 – 21.07.2013
Kunstmuseum Basel

Pablo Picasso, Tête de Fou, 1905
Pablo Picasso, Tête de Fou, 1905

Tête de Fou, 1905
“Das war eine Entdeckung in einer Basler Privatsammlung, mit der wir überhaupt nicht gerechnet hatten. Wir haben dort verschiedene Bilder angeschaut, und auf einmal kamen wir in einen Raum, in dem überraschend diese Skulptur stand. Es handelt sich um eine sehr seltene Skulptur, die wir in Basel nicht erwartet hätten und vom Motiv her der rosa Periode zugerechnet wird. Darum zeigen wir dieses Werk auch im Kontext mit den Deux frères, die Picasso 1906 gemalt hat. Für uns ist besonders schön, dass es dieses Harlekin-Motiv in einer Skulptur gibt. In jener Zeit hat Picasso oft Strassenjungen, Artisten und Harlekins gezeichnet und gemalt. Dieses Motiv wird später, in den 1920er-Jahren, in Picassos Werk eine sehr wichtige Rolle spielen, und aus jener Zeit können wir in unserer Ausstellung drei Gemälde mit dem Harlekin-Motiv zeigen.
Wann dieses Werk gegossen wurde, ist nicht geklärt. Wir gehen aber nicht davon aus, dass der Tête de Fou bereits 1905 gegossen wurde, weil ein Bronzeguss für einen jungen Künstler immer eine sehr grosse Investition war, für die er zuerst jemanden finden musste, der das Vorhaben finanzierte. Diese Skulptur wurde von Picassos Galeristen Ambroise Vollard gegossen.“
Nina Zimmer

Pablo Picasso, Le repas frugal, 1904
Pablo Picasso, Le repas frugal, 1904

Le repas frugal, 1904
“Dieses Blatt wurde vom Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel sehr früh, 1926, angekauft. Es handelt sich um die allererste Druckgrafik, die Picasso angefertigt hat. Eine Radierung in diesem Format war zu jener Zeit überhaupt nicht üblich. Er hat bei dieser Arbeit ein sehr feines, differenziertes Schraffursystem angewendet, und es ist erstaunlich, dass er dies auf Anhieb beherrscht hat. Druckgrafik ist für viele Künstler eine Herausforderung, weil sie die Technik wirklich beherrschen müssen. Aber genau das hat ihn gereizt – dieses Material in den Griff zu bekommen. Damals, 1904, hat ihn ein Künstlerkollege im Atelier in die Materie eingeführt, ihm eine Platte gegeben und er hat einfach losgelegt.
Auch dieses Werk zeigt sein Interesse an Randfiguren wie Zirkus-akrobaten, Prostituierten oder, wie auf diesem Bild, armen Leuten, zu denen Picasso damals auch gehörte. Er scheint sehr viel Zeit in diese Technik des Radierens investiert zu haben, obwohl er – es war zu Beginn seiner blauen Periode – kaum Bilder verkaufen konnte. Die ersten Abzüge verschenkte er an Kollegen, und erst später konnte sein Galerist Ambroise Vollard eine Auflage drucken, die über den Kunstmarkt verkauft wurde. Mit dieser Druckgrafik gelang Picasso ein Meisterwerk, dessen differenzierte Graubabstufungen malerische Qualitäten aufweisen.”
Anita Haldemann

Pablo Picasso, Esquisse pour «les Demoiselles d’Avignon», März/April, 1907
Pablo Picasso, Esquisse pour «les Demoiselles d’Avignon», März/April, 1907

Esquisse pour «les Demoiselles d’Avignon», Étude pour «les Demoiselles d’Avignon»
“Diese beiden Zeichnungen sind Geschenke: Die rechte Skizze behielt Picasso sechzig Jahre lang in seinem Atelier, schenkte sie nach der Volksabstimmung im Jahre 1967 dem Kunstmuseum Basel. Die linke Skizze, die etwas später entstanden ist, hat uns Douglas Cooper geschenkt, ein enger Freund von Picasso, einfach weil er so begeistert war von der Basler Kubismus-Sammlung. Insgesamt hat Picasso für sein wohl bedeutendstes Werk Les Demoiselles d’Avignon 19 Vorzeichnungen gefertigt und diverse kleine «Carnets» mit diesem Motiv gefüllt. Er brauchte einfach eine gewisse Zeit, um dieses Motiv zu entwickeln und so radikal werden zu lassen.
Picasso hat hier ein Motiv des 19. Jahrhunderts, eine Bordellszene, genommen und alle narrativen Elemente weggelassen und verbindet die schon fast aggressiv wirkende kommerzielle Sexualität dieser Frauen mit der afrikanischen Skulptur, die fremd, archaisch und wild wirkt. Zusätzlich zu seiner neuen Formenspache, macht diese Verbindung, auf revolutionäre Art das Moderne in diesen Werken aus.”
Anita Haldemann

Pablo Picasso, Femme au béret orange et au col de fourrure, 1937
Pablo Picasso, Femme au béret orange et au col de fourrure, 1937

Femme au béret orange et au col de fourrure, 1937
“Dies ist unser Plakatmotiv, und es handelt sich nun wirklich um eine Trouvaille. Nachdem Picasso dieses Bild gemalt hatte, wurde es nur ein einziges Mal ausgestellt, sehr kurz in der Galerie Beyeler. Ein Basler Sammler hat es damals gekauft und es wurde nie wieder ausgeliehen, nie wieder ausgestellt. Niemand kannte dieses Gemälde.
An diesem Bild lässt sich gut erklären, wie man Picas-sos Modelle erkennen kann: Klassisch, blond und eine Nase, die gerade in einer Linie in die Stirn übergeht – das ist Marie-Thérèse Walter. Braune Haare und das Gesicht in einzelne Anatomieteile zerstückelt und kompliziert – das ist die schwierige Dora Maar. Es war die Zeit, in der Picasso in einer Vierecks-Beziehung lebte, und Dora Maar, selbst eine Künstlerin, eine Fotografin, die sich im Surrealisten-Zirkel bewegte, war sicherlich die anspruchvollste und stärkste Geliebte Picassos.”
Nina Zimmer

Prägende Künstlerfreundschaften

Renoir. Zwischen Bohème und Bourgeoisie
Die frühen Jahre
01.04.2012 – 12.08.2012
Kunstmuseum Basel

von Stefanie Manthey*
Das Kunstmuseum Basel richtet in seiner Sonderausstellung seit dem 1. April den Fokus auf das überraschend vielschichtige Werk der frühen Jahre Pierre-Auguste Renoirs. Einen Höhepunkt der Ausstellung bilden Gemälde, für die ihm Lise Tréhot Modell stand. In diesen tritt sie in unterschiedlichsten Rollen und Bildgenres auf: Beispielsweise als modisch gekleidete Pariserin und bohemiennehaftes Landmädchen. Renoir und Lise verband ein von 1865 bis 1872 dauerndes Verhältnis, aus dem zwei illegitime Kinder hervorgingen. Diesem Thema sowie der Frage nach Renoirs Beitrag zu einer Malerei der «vie moderne» war der Artikel gewidmet, der in der Frühlingsausgabe des Artinside erschienen ist.
Von besonderer Bedeutung für Renoirs Entwicklung während seiner künstlerisch entscheidenden Jahre war sein soziales Umfeld: Dazu zählten Gönner wie die traditionsreiche, kunstsinnige Familie Le Cœur und enge Künstlerfreundschaften, die ihn mit etwa gleichaltrigen Kollegen wie Alfred Sisley, Claude Monet und Frédéric Bazille verbanden. Gemälde, in denen diese Personen ihren Auftritt haben, bilden in der Ausstellung eine eigene, zentrale Gruppe. Dem Verhältnis zwischen Renoirs sozialem Umfeld und den Bildern, zu denen es ihn anregte, ist der vorliegende Beitrag gewidmet.

Im November 1861 trat Renoir in das Atelier des Schweizer Malers Charles Gleyre ein. Hier traf der gelernte, aus einer Handwerkerfamilie stammende Porzellanmaler erstmals auf Jules Le Cœur, Sisley, Monet und Bazille: junge Männer aus wohlhabendem Elternhaus, die sich entgegen der Familientradition dafür entschieden hatten, Maler zu werden. Le Cœur mietete in Marlotte, einem unweit von Paris im Wald von Fontainebleau gelegenen Ort, ein Haus. Von hier aus brachen die Künstlerkollegen ins Umland auf und experimentierten wie Camille Corot und François Daubigny, beide bekannte Maler der Vorgängergeneration, mit Landschaftsdarstellungen. Sie strebten danach, die Jury des Pariser Salons zu überzeugen und Gemälde bei dieser Grossausstellung zeigen zu können. Parallel dazu bemühte sich Renoir um Porträtaufträge und empfahl sich damit als Maler von Bildnissen. 1864 porträtierte er William Sisley, den Vater seines Künstlerfreundes Alfred Sisley. In unmittelbarer Folge malte Renoir Sisley junior: Er zeigt den Sohn als Inbegriff des Dandys mit einer locker um den Hals geschlungenen «cravate». Diese entspricht dem sprichwörtlichen Code der Eleganz, der von dem Ur-Dandy Beau Brummell geprägt wurde. Renoir imitiert mit Pinsel und Farbe den lässigen Fall der «cravate» in der pointenreichen Mühelosigkeit, die jeder Dandy anstrebt: Im Effekt muss der Knoten so wirken, als ob er in grösster Hast geschlungen wurde.

Unter Renoirs Künstlerfreunden nehmen Bazille und Monet eine Sonderstellung ein. Mit Bazille verband ihn bis zu dessen frühzeitigem Tod im Deutsch-Französischen Krieg die grösste Nähe. Ende der 1860er-Jahre nutzten sie gemeinsam die in Paris von Bazille gemieteten Räume. Renoirs Verhältnis zu Monet war nicht konstant, dafür aber phasenweise künstlerisch umso intensiver. 1869 malten sie erstmals Seite an Seite in der Nähe von Bougival, einer Gegend, die von der Pariser Bevölkerung wegen der Badeinsel, La Grenoullière, am Wochenende belagert wurde. Gemeinsam zählten sie zu den ersten, die den städtischen Badespass als Thema zeitgenössischer Malerei aufgriffen. Diese Praxis setzten sie Anfang der 1870er-Jahre fort, nachdem Monet zusammen mit seiner Frau Camille und ihrem Sohn Jean nach Argenteuil umgezogen war. Sie begaben sich in Monets Malboot und machten von dort aus dasselbe Motiv zum Thema ihrer Gemälde: im Fall von La Seine à Argenteuil (Les voiles)eine ufernahe Szene mit zwei Skippern, die sie zum Anlass nahmen, malerisch Reflexionen von Licht auf Segeltuch und fliessendem Gewässer einzufangen. In der Folge nahm Renoir den Künstlerkollegen aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick und wagte sich an eigenständige, kühnere Kompositionen, so zum Beispiel am 23. Juli 1874, einem Datum, das in die Geschichte des Impressionismus eingegangen ist. Demzufolge war Édouard Manet bei Monet zu Gast und damit beschäftigt, Camille Monet, ihren Sohn Jean und Monet im Garten zu malen, als Renoir eintraf. Die Situation erregte seine Aufmerksamkeit. Für Madame Monet et son fils übernahm er die Szenerie und wandelte sie in einem Detail gewitzt ab: Statt des Hausherrn als Gärtner drängt sich in Renoirs Komposition ein aufgeplusterter Hahn von rechts ins Bild. In der Folge soll Manet Monet aufgefordert haben, Renoir mitzuteilen, dass er es mit dem Malen sein lassen solle. Eine Anekdote, die durchblicken lässt, dass die Künstlerkollegen auch Konkurrenten waren.
Die Le Cœurs unterstützten Renoir während seiner frühen Jahre massgeblich. In ihnen fand er so etwas wie eine zweite Familie, bis es 1874 zum Bruch kam. Über Jules Le Cœur lernte Renoir dessen Bruder, den Architekten Charles Le Cœur kennen. Er vergab an Renoir Aufträge für Porträts von sich und seiner Familie und eröffnete ihm Kontakte zu Vertretern der Haute Bourgeoisie. 1871 inszenierte Renoir ihn in Portrait de Charles Le Cœur als zeitgenössisch gekleideten Mann im Sommeranzug und titulierte ihn in der Widmungsadresse als «galanten Gärtner». In einem Brief vom 1. März 1871 berichtete Renoir Charles Le Cœur von seinem Zusammenbruch während seines Militäreinsatzes im Deutsch-Französischen Krieg und drückte seine Sehnsucht nach einem Wiedersehen aus. «Ami Renoir», so die Grussformel, mit der er sich aus dem Brief verabschiedet. In seinem an den Gönner adressierten Gemälde hebt er den Austausch auf eine metaphorische Ebene, übersetzt die Tradition lobender Anerkennung in eine zeitgenössische Poesie der Gabe.
* Stefanie Manthey ist als Wissenschaftliche Assistentin an Ausstellung und Katalog sowie dem Begleitprogramm beteiligt.

Arte Povera. Der grosse Aufbruch

Anselmo, Boetti, Calzolari, Fabro, Kounellis, Merz, Paolini, Pascali, Penone, Pistoletto, Prini, Zorio, aus der Sammlung Goetz 

Arte Povera
Der grosse Aufbruch
09.09.2012 – 03.02.2013
Kunstmuseum Basel

In den 60er-Jahren formiert sich in Italien mit heute so berühmten Künstlern wie Alighiero Boetti, Jannis Kounellis, Mario Merz oder Michelangelo Pistoletto eine neue künstlerische Bewegung. Charakteristisch ist der Einsatz einfacher Mittel und ärmlicher Materialien wie Erde, Glas, Äste, Neonlicht oder Wachs. Er steht im durchaus kritischen Gegensatz  zur immer technologischer werdenden Umwelt und zu den Produktionsmechanismen der Massenkultur. In stilistischer Anarchie streben Bilder, Objekte, Rauminstallationen und Performances danach, zu natürlichen Prozessen und Gesetzmässigkeiten zurückzufinden. Das Povere, Poröse bis Fliessende der Gestaltungsmittel soll die Wahrnehmung öffnen für «das allen Dingen zugrundeliegende Strömen von Energien» (Carolyn Christov-Bakargiev). So entstehen prozessorientierte Arbeiten im Spannungsfeld von Natur und Kultur, Anarchie und Ordnung. In diesen «visualisierten Wahrnehmungsprozessen» wird gleichzeitig das grosse kulturelle Erbe – von Antike und Renaissance –  auf sinnliche und poetische Weise befragt.

Der Begriff Arte Povera taucht im September 1967 erstmals auf als Titel einer in Genua stattfindenden Ausstellung mit Künstlern aus Rom, Turin und Mailand, so Boetti, Fabro, Kounellis, Pascali, Paolini und Prini, nicht aber Pistoletto und Merz. Wortschöpfer ist  der Kunstkritiker und Kurator der Genueser Ausstellung, Germano Celant. Diese künstlerische Bewegung jedoch als Künstlergruppe im engeren Sinne zu bezeichnen, kann aber schnell irreführend sein. Bei aller Vergleichbarkeit der künstlerischen Strategien und des gesellschaftspolitischen Engagements herrschte bei den einzelnen Künstlern eine Vielgestaltigkeit der formalen Mittel und eine ausgeprägte Individualität vor, die sich im Verlauf der 70er-Jahre noch zuspitzte.

Die Sammlung Goetz ist eine der umfassendsten Sammlungen dieser überaus innovativen und wirksamen Kunstbewegung. Die grosse Sonderausstellung im Kunstmuseum Basel ermöglicht es mit rund 100 Werken, die Aktualität der Arte Povera auch für die jüngste Künstlergeneration zu veranschaulichen. Zahlreiche Schlüsselwerke sind versammelt, die Ingvild Goetz über viele Jahre gesammelt hat und die seit Langem nicht mehr öffentlich zu sehen waren. Ausserdem hat die Sammlung Goetz ein wichtiges Archiv mit Fotografien und Dokumenten angelegt. Sie werden in der Basler Ausstellung als Auftakt gezeigt, um die weitverzweigte Dimension dieses grossen künstlerischen Aufbruchs erfahrbar zu machen. So wird eine Übersichtsschau möglich, die in den späten 50er-Jahren einsetzt und zu Beginn der frühen 90er-Jahre endet, wobei das Schwergewicht auf der künstlerisch entscheidenden Frühphase der Arte Povera liegt.

Der grosse Aufbruch

Rainald Schumacher im Gespräch mit der Sammlerin Ingvild Goetz

Rainald Schumacher: Über einhundert Werke der Künstler, die unter dem Begriff der Arte Povera Teil der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden sind, bilden einen wichtigen Bestandteil in Ihrer Sammlung zeitgenössischer und ganz aktueller Kunst. Wann haben Sie begonnen, sich für diese italienischen Künstler zu interessieren?
Ingvild Goetz: Mein Interesse begann Anfang der 1970er-Jahre parallel zu den politischen Veränderungen in Deutschland, die mich sehr beschäftigten. Bei einer Reihe von Künstlern aus dieser Zeit passierte etwas Ähnliches. Sie wollten mit Traditionen brechen. Arte Povera läutete eine völlig neue Kunst-Ära ein. Sie brach mit der traditionellen Malerei und Bildhauerei und setzte sich gleichzeitig mit ihrem italienischen Kulturerbe auseinander: Die Künstler interessierte die Kunst der Strasse. Sie brachten gefundene und fertige Materialien ein und kreierten damit Installationen und Skulpturen, die oft auch von Performances begleitet wurden. Das Tafelbild war weitgehend verpönt und hatte eher einen performativen  oder installativen Hintergrund.

Die frühen 1980er-Jahre waren geprägt von A New Spirit in Painting. Die expressiv gestische Malerei feierte eine Art Wiedergeburt. Die vermeintliche Kopflastigkeit von Minimal-Art oder Concept-Art sollte überwunden werden. Sie aber konzentrierten sich in dieser Zeit, die ja dann auch den Aufbruch in Ihre bis heute andauernde Tätigkeit als Sammlerin markierte, deutlich auf die Künstler der Arte Povera?
Die Arte Povera entsprach mir mehr als die damals so hochgejubelte Malerei, auch mehr als zum Beispiel Minimal- oder Pop-Art. Sie musste zum Teil regelrecht entschlüsselt werden. Das ist etwas, was ich sehr mag. Sie nahm viel Bezug auf klassische Themen, auch auf die Tradition, um sich gleichzeitig von ihr zu lösen. Und sie gefiel mir optisch. Ich musste mich regelrecht in eine spezifische Ästhetik hineinarbeiten.

Wie können wir uns das vorstellen, eine Kunstsammlung nimmt ihren Anfang,
wie geschah das ganz praktisch?
Nachdem mir aus der Galerietätigkeit wenige Arbeiten von Arte-Povera-Künstlern übrig geblieben waren – darunter allerdings die grossartigen Leinwände von Jannis Kounellis Senza titolo, 1959, und Senza titolo, 1961, beschloss ich, einen grössten Teil meiner unstrukturierten Sammlung zu verkaufen und die Arte-Povera-Sammlung zu komplettieren. In den Jahren 1991 und 1992 konnte man diese Werke noch preiswert erhalten. Wir besuchten Sammler, von denen die meisten auch bereit waren, Arbeiten herzugeben. Wir waren erstaunt, wie katastrophal die meisten Kunstwerke gelagert waren. Eine wichtige Arbeit von Giulio Paolini entdeckten wir in einem Keller, in dem das Wasser zwanzig Zentimeter hoch stand. Darin befanden sich die meisten Kunstwerke – verschimmelt und verrottet. Bei einem anderen Sammler, der Kettenraucher war, entdeckten wir einen frühen Pistoletto, der mit Tabakrückständen regelrecht zugekleistert war.
Als ich Michelangelo Pistoletto fragte, wie ich denn diese Arbeit wieder in ihren Urzustand versetzen kann, meinte er, am besten mit einen Putzmittel wie Sidolin. Gott sei Dank hielt mich seine Frau davon ab, sofort nach der Flasche zu suchen. Eine Restauratorin hat später diese Arbeit fachmännisch zum Glänzen gebracht.

Wie war die Situation in Italien bei den Galerien in den 1990er-Jahren?
Die Galerien waren unglaublich lebendig und sehr aktiv. Allerdings gab es einen völlig anderen Umgang mit den Kunstwerken. Während wir mit weissen Handschuhen die Heiligtümer von hier nach dort trugen, wurden in vielen Galerien die Leinwände gerollt, Arbeiten zusammengefaltet und unverpackte Objekte verschickt. Ich erinnere mich noch an die erste Messe in Bologna von 1974, an der ich als Galeristin teilgenommen hatte. Es gab quasi keinen Besucher, so fingen wir Galeristen an, Kunstwerke zu tauschen, zu kaufen oder gegenseitig zu verleihen. Sodass auf diese Weise ein reger interner Handel begann. Ich kaufte mir eine grossartige Arbeit von Kounellis.
Zu meinem Entsetzen brachte mir zwanzig Minuten später der italienische Galerist eine eng zusammengerollte Arbeit, die vorher noch als grosse Leinwand prächtig an der Wand hing. Er meinte, das Verfahren wäre doch sehr praktisch, so könne ich die Arbeit gleich im Flugzeug mitnehmen. Das Ergebnis ist, dass sich in den etwa vierzig Jahren so viele Craquelés gebildet haben, dass sie kaum noch ausgeliehen werden kann.

Welche Werke waren regelrechte Entdeckungen?
Zum Beispiel die bereits erwähnte Arbeit von Giulio Paolini aus dem Keller eines Sammlers. Ich habe lange danach gesucht. Paolini selbst war hocherfreut, diese Arbeit wiederzusehen. Für ihn war sie schon verschollen. Das Gleiche galt für Kounellis, als er nach vielen Jahren die Skulptur Senza titolo, 1976, wieder entdeckte, die ich einem Galeristen aus der Nase gezogen hatte. Der wollte diese wunderbare Skulptur erst gar nicht hergeben. Oder das kleine Portofolio von Paolini Ritratto dell’artista come modello, 1980, das in einer Edition von 100 aufgelegt wurde, eine wunderbare Arbeit.
Auf zwei Raritäten von Alighiero Boetti bin ich sehr stolz, das sind Ping Pong, 1966, und Buste a Luciano Pistoi, Lavoro postale, 1975–1976. Ja, und dann noch von Mario Merz dieser faszinierende Mantel mit Wachs und Neon, Impermeabile, 1966. Das sind seltene Arbeiten, für die ich mich sehr einsetzen musste, um sie überhaupt kaufen zu können.

Haben Sie etwas gelernt über die Welt, über sich selbst und über die Kunst durch das Kennenlernen und die intensive Auseinandersetzung mit den Werken und dieser ganz eigenen Ästhetik?
Mich hatten hauptsächlich der Bruch und die Auseinandersetzung mit der Tradition interessiert, die mich persönlich ansprachen, auch weil ich, wie schon erwähnt, diese Parallelen zum politisch gesellschaftlichen Umbruch in Deutschland sah. Die Ästhetik war für mich eine Herausforderung, die ich gerne annahm: nämlich meine Sehgewohnheiten zu überprüfen und mich mit einer neuen Sichtweise auseinanderzusetzen.

Ein kurzer Besuch und eine lange Geschichte

von Anita Haldemann und Nina Zimmer*

Die Picassos sind da!
Eine Retrospektive aus
Basler Sammlungen
17.03.2013 – 21.07.2013
Kunstmuseum Basel
Pablo Picasso war nur einmal für eine Nacht in Basel, im Hotel Trois Rois am 7. September 1932, als er auf dem Weg nach Zürich haltmachte. Er war mit seiner Frau Olga und ihrem Sohn Paulo im schicken Hispano Suiza unterwegs und kam direkt aus Paris. Dem Fotografen Kurt Wyss erzählte Picasso bei ihrem Zusammentreffen 1967, dass er sich damals 1932 eigentlich mit Paul Klee verabredet hatte, der aber nicht erschien. Picasso genoss jedoch den Blick vom Hotel auf die Stadt, im Interview mit der Basler «National-Zeitung» erinnerte er sich: «Ich habe dort die Nacht über auf dem Balkon gestanden. Das Hotel hiess Drei Könige und liegt am Rhein. Der Blick ist sehr schön. Noch nie habe ich einen so schwarzen Fluss gesehen, tintenschwarz. Und man hörte die Strassenbahnen fahren, dann nur noch ein paar Autos, endlich ging irgendwo eine Türe, und dann war die ganze Stadt still.»
Die Stadt Basel und Picasso sind dennoch heute auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Picassos Karriere und das Verständnis, das die Welt heute von seiner künstlerischen Leistung und seiner Position in der Kunstgeschichte hat, sind in beinahe allen Phasen entscheidend von Basler Sammlern, Kunsthistorikern und Händlern mitgeprägt worden. Und umgekehrt standen für viele Baslerinnen und Basler am Anfang ihres Interesses für die moderne Kunst ästhetische Eindrücke, die sie angesichts von Werken Picassos empfingen. Ebenso haben die Erfahrungen, die eine ganze Generation von Baslerinnen und Baslern im Picasso-Jahr 1967 machte, zum heutigen Selbstverständnis Basels als Kulturstadt beigetragen.
Die besonderen Basler Beziehungen zu Picasso reichen jedoch noch weiter zurück. Kunst­sammler wie Raoul La Roche, Rudolf Staechelin, Karl Im Obersteg und Maja Sacher-Stehlin legten noch vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Sammlungen an, in denen Picasso prominent vertreten ist. Viele dieser erstklassigen Werke sind heute in die Sammlung des Kunstmuseums Basels eingegangen oder werden dort dauerhaft gezeigt; das Museum selbst hatte bereits seit den 1920er-Jahren erste Werke für sein Kupferstichkabinett erworben und durch bedeutende Ankäufe von Gemälden seit den 1950er-Jahren den Bestand kontinuierlich erweitert. Nach dem Krieg hat Ernst Beyeler das Werk des spani­schen Künstlers den Basler Kunstliebhabern in Galerieausstellungen ver­mittelt und gleichzeitig seine eigene, imposante Sammlung aufgebaut. Heute befindet sich in Basler Privatbesitz eine in Dichte und Qualität erstaunliche Konzentration von Werken.
Durch die einmalige Zusammenführung all dieser Bestände kommt eine umfassende Ausstellung zu­stan­de, die alle wichtigen Werkphasen Picassos auf höchstem Niveau darstellt. Im zweiten Obergeschoss des Kunstmuseums, das erstmals seit der Van-Gogh-Ausstellung wieder vollständig einer einzigen Ausstellung gewidmet ist. 165 Werke ermöglichen einen Einblick in alle seine faszinierenden Schaffensperioden von der Blauen und der Rosa Periode über den Kubismus bis zum surrealistisch geprägten Werk der 1930er-Jahre, sowie dem Schaffen der 1940er- und 1950er-Jahre bis einschliesslich des Spätwerks. Dabei machen Picassos abrupte Stilwechsel und die aussergewöhnliche Vielfalt seiner Bildideen und seine technische Raffinesse den Ausstellungsrundgang abwechslungsreich.
Hinzu kommt, dass Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik sowie Skulpturen von Picasso einander gegenübergestellt werden. Dem Besucher ermöglicht dies, verblüffende Wechselbeziehungen zu beobachten. So sind etwa die parallel entstandenen Varianten von Dora- Maar-Köpfen auf Leinwand und Papier spannend zu vergleichen. Oder die zwei Zeichnungen zu Les Demoiselles d’Avignon erlauben einen Einblick in die Entstehung des epochemachenden Gemäldes am Anfang des Kubismus. Im Spätwerk ist dann eher der Unterschied zwischen dem skizzenhaften Charakter der späten Gemälde und der viel kontrollierter wirkenden Präzision der späten Zeichnungen bemerkenswert.
Die Ausstellung umfasst insgesamt 165 Gemälde, Arbeiten auf Papier und Skulpturen. Sie wird ergänzt durch eine Dokumentation des Picasso-Jahres 1967, die neben Originaldokumenten auch Fotografien von Kurt Wyss beinhaltet. Ein Dokumentarfilm, der in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen entstanden ist, kann ebenfalls in der Ausstellung gesehen werden.

*Haldemann und Zimmer haben die Ausstellung gemeinsam vorbereitet.

Die Magie der Dinge

Die Magie der Dinge – Stilllebenmalerei 1500–1800
07.09.2008 – 04.01.2009 | Kunstmuseum Basel

Von Dr. Bodo Brinkmann*

Tautropfen auf zarten Blütenblättern, Lichtreflexe auf kostbarem Silbergeschirr, kandiertes Zuckerwerk in blau-weissen chinesischen Porzellanschälchen, das weiche Gefieder eines toten Singvogels, der fahle Ton eines Totenschädels: Stillleben faszinieren bis heute durch den nahsichtigen Blick auf nicht lebende – doch keineswegs leblose – Gegenstände, an denen sich die malerische Raffinesse des Künstlers entfaltet. Doch war die Stilllebenmalerei alles andere als eine rein ästhetische Angelegenheit: In ihr spiegelten sich nicht nur Vergänglichkeitsgefühl und Erlösungsbedürfnis, sondern auch die Freude an den dargestellten exotischen Handelswaren, mit denen etwa die holländischen Kaufleute riesige Vermögen erworben hatten.
Die Ausstellung, welche die hochkarätigen Bestände des Kunstmuseums Basel, des Städel Museums und des Hessischen Landesmuseums Darmstadt vereint, spannt mit über 90 Meisterwerken von Jan Brueghel d. Ä., Jan Davidsz. de Heem, Willem Kalf, Rachel Ruysch, Abraham Mignon, Georg Flegel, Jan Soreau, Gottfried von Wedigh und Sebastian Stosskopf den Bogen der Stilllebenmalerei in den Niederlanden und in Deutschland vom späten 15. bis ins späte 18. Jahrhundert. Damit breitet sie ein Panorama der verschiedenen Spielarten des Stilllebens aus, das die sachlich ausgerichteten Werke des frühen 17. Jahrhunderts ebenso umfasst wie die späteren Prunk­stillleben, «Mahlzeiten» ebenso wie üppige Blumensträusse oder pittoreske Tierstillleben.
Seit seiner Emanzipation von der religiösen Malerei des Spätmittelalters, wo Gegenstände ihre Bedeutung in erster Linie als Symbole oder Attribute entfalteten, diente das Stillleben zunächst vor allem der Erfassung und Deutung der still liegenden Dinge aus der Alltagswelt des Betrachters. In ihnen spiegelten sich die Ordnung und Struktur der übergeordneten abstrakten Welt der Barockzeit: die Sinne oder das jeweilige Temperament des Menschen etwa, die Elemente oder die Jahreszeiten, die seine Welt prägten, oder die Vergänglichkeit und Erlösungsbedürftigkeit der sündigen Menschheit insgesamt.
Doch schon im 17. Jahrhundert fand im Stillleben auch die wirtschaftliche Lebenswelt und Realität sowohl der Maler als auch der Sammler und Auftraggeber ihren Niederschlag: Man prunkt mit exotischen Gewürzen, orientalischen Teppichen, venezianischem Glas oder chinesischem Porzellan.
Durch die Konzentration auf einige wenige, oft gleich bleibende Objekte konnte das Stillleben aber auch zum idealen Experimentierfeld künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten werden. Die anfangs noch starke inhaltliche Aufladung des Werks trat nun zugunsten seiner malerischen Gestaltung in den Hintergrund, ohne indes ganz fortzufallen. Gerade in der hierarchisch als niedrig eingestuften Gattung des Stilllebens musste sich die spezifische Begabung eines Künstlers zeigen, beruhten Reiz und Wert eines Werks entscheidend auf der Komposition, der sinnreichen Zusammenstellung der Gegenstände, dem überzeugenden Kolorit und dem gekonnten Pinselstrich. So legen die Gemälde auch Zeugnis ab von der Könnerschaft in der augentäuschenden Wiedergabe unterschiedlichster Materialien und Oberflächen. Verschiedenartige Beleuchtungen von der klaren Helligkeit des Tages bis zum Schein einer einzelnen Kerze wurden erprobt und für die Inszenierung mannigfaltiger Situationen und Stimmungen nutzbar gemacht.
Die Ausstellung führt dem Besucher die Entwicklungsgeschichte der Stilllebenmalerei zwischen 1500 und 1800 vor Augen und macht ihn mit den wichtigsten Bildgegenständen und -typen vertraut. Sie beginnt mit Vorformen des Stilllebens an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. So illustriert die erste Abteilung den Prozess der Emanzipation des Stilllebens vom symbolbeladenen Beiwerk religiöser Gemälde zu einem Sujet eigenen Rechts. Die folgenden Abschnitte zum frühen autonomen Stillleben um 1600 mit Jan Brueghel und Georg Flegel als Hauptvertretern markiert durch eine Auswahl besonders hochkarätiger Werke einen ersten Höhepunkt der Ausstellung. Die folgenden Abteilungen zum Fisch- und Jagdstillleben sowie zu den Kartuschenbildern veranschaulichen die hochgradige Spezialisierung der Maler des 17. Jahrhunderts auf bestimmte Gattungen, die ihnen, oft Monopolisten des jeweiligen Genres in ihrer Stadt, auf dem Kunstmarkt strategische Vorteile bot.
Ganz der Prachtentfaltung, aber auch der Demonstration feinmalerischer Virtuosität dienen neben den Blumenstücken vor allem die Prunkstillleben, in der Ausstellung unter anderem durch die Familie de Heem und Abraham Mignon vertreten. Mit ihnen kontrastieren die «monochromen bankettjes», alltägliche und rustikale Mahlzeiten, denen die reduzierte Farbigkeit der Darstellung besonderen atmosphärischen Reiz verleiht. Vanitas-Stillleben bilden die nächste Werkgruppe, die in die Symbolik der barocken Bilderwelt, in ihr ganz eigentümliches Changieren zwischen sinnlichem Reiz und Mahnung an die Vergänglichkeit des irdischen Seins einführt. «Vanitas», die Eitelkeit und Nichtigkeit der Dinge, wird angedeutet durch markante Symbole wie den Totenschädel, die verlöschende Kerze oder die Uhr als Sinnbild der verrinnenden Zeit.
Dem 18. Jahrhundert ist das letzte Kapitel der Ausstellung gewidmet, in dem vor allem die Sonderleistungen einiger Individualisten den künftigen Weg der Malerei in die Moderne ankündigen. Justus Junckers etwa hebt auf einem winzigen Täfelchen eine Birne in monumentaler Grösse gleich einem Denkmal auf einen Sockel. Adriaen Coorte machte eine immer gleiche Tischecke zum Thema seiner visuellen Poesie. Der grosse französische Stilllebenmaler Jean Siméon Chardin schliesslich ist gleich mit drei seiner meisterhaften Stillleben vertreten, die mit wenigen lakonischen Pinselstrichen den Objekten eine unglaubliche Präsenz verleihen und einen glanzvollen Schlusspunkt setzen.

*Dr. Bodo Brinkmann ist seit 2008 Konservator für Alte Meister (15. – 18. Jh.) am Kunstmuseum Basel und Kurator der Ausstellung.