Kandinsky – Malerei 1908 – 1921
21.10.2006 – 04.02.2007 | Kunstmuseum Basel
Mit der Entwicklung der Abstraktion gab Wassily Kandinsky der Kunst einen neuen Impuls, der bis heute wirksam ist, und eröffnete sich eine geistige Wirklichkeit jenseits sichtbarer Vorbilder. Die Ausstellung im Kunstmuseum Basel konzentriert sich auf die entscheidenden Schaffensjahre zwischen 1908 und 1921.
Von Hartwig Fischer und Sean Rainbird*
In der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts nimmt Wassily Kandinsky einen besonderen Platz ein. Er zählt zu den ersten Künstlern, die die Gegenständlichkeit hinter sich liessen und eine «abstrakte Malerei» verwirklichten. In seinen Bildern gab er dem dichten geistig-seelischen Gewebe, das er als «inneren Klang» bezeichnete, Gestalt. War zuvor die Natur oder ein historisches oder biblisches Ereignis Thema des Bildes, wurde jetzt die immaterielle Wirklichkeit der eigenen seelischen Instanzen Gegenstand der Kunst. Dieser Vision näherte sich Kandinsky schrittweise in einem Prozess des Experimentierens. Er verwandelte die Linie, die traditionellerweise eine Form umreisst oder als Parallelschraffur den Eindruck von Volumen erzeugt, zu einer Masseinheit für Energie und Dynamik, die auch in den abstrakten Bildern noch Gegenständliches andeuten kann – einen Berg, ein Boot, einen Reiter, ein liegendes Paar –, die vor allem aber losgelöst von solchen Bezügen im Bild agiert. Entsprechend kühn wählte Kandinsky die Farben, die im präzisen Zusammenspiel Raum, Bewegung, ja Handlung erzeugen und durch ein reiches Geflecht von Assoziationen unbewusste Gefühle freisetzen.
Als Kandinsky 1914 auf seine künstlerische Produktion der vorausgehenden fünf Jahre und die Entwicklung der Abstraktion in seinen Bildern zurückblickt, erklärt er, dass die revolutionäre Auflösung des Motivs nicht das eigentliche Ziel seiner Arbeit sei. Der völligen Ungegenständlichkeit hatte er sich zu diesem Zeitpunkt erst angenähert: Gegenständliche Elemente und Handlungsstrukturen bleiben selbst 1914 noch rudimentär vorhanden, sind aber zunehmend Teil eines bildimmanenten Spiels von Linie und Farbe.
Diese Entwicklung lässt sich an den zahlreichen ab 1908 in Murnau entstehenden Landschaften nachvollziehen.
Erkennen wir hier zu Beginn noch in den saftigen Grün- und Purpurrottönen gewisse Tageszeiten und Witterungsverhältnisse, emanzipieren die Farbwerte sich zunehmend vom Motiv. Kandinsky integriert diese Farberfahrungen und die intensive Beobachtung bestimmter Lichtverhältnisse bald als eigenständige Werte. Die Bedeutung des Landschaftsmotivs wird durch solche Experimente zugunsten rein malerischer Fragestellungen von Farbe und Komposition in den Hintergrund gedrängt, bleibt aber als Matrix lange spürbar. Eine voll entwickelte, ausgereifte Abstraktion zeigen dann die ab Januar 1914 entstandenen Bilder. Allerdings war dieser Entwicklungsschritt keineswegs unumkehrbar und schloss die Gegenständlichkeit bis 1922 nicht aus.
Auf seinem Weg zur Abstraktion und zum Bruch mit der Darstellungstradition der abendländischen Kunst stellte Kandinsky die Malerei in die Nähe anderer Kunstformen. Vor allem die Musik bot sich in ihrem eher zeitlichen als räumlichen Verlauf als Analogieebene an, die Kandinsky dabei half, die Malerei aus ihrer Abhängigkeit von der beschreibenden Linie und der naturalistischen Lokalfarbe zu befreien. Durch die Bezugnahme auf die Begriffe von Resonanz, Schwingung und Klang, die er im Miteinander der Farben entstehen sah, lieferte die Musik auch eine Analogie für die körperlichen Wirkungen, die Kunstwerke auf den Betrachter haben können. Sogar Kandinskys Impressionen, die jeweils auf direkten Eindrücken beruhen, bewegen sich jenseits des Illustrativen und geben vielmehr eine Art von flüchtigem Nachbild, das die Intensität des eigentlichen, vom Künstler erlebten Ereignisses artikuliert. In den Improvisationen und den durchstrukturierteren Kompositionen gelingt dann die Annäherung an die abstrakte oder reine Kunst. Kandinsky dynamisiert das Verhältnis zwischen dem essenziell Statischen eines Werkes und seinem Inhalt: Wo er Referenzen an Gegenständliches beibehält, unterdrückt er Motive, die einen Hinweis auf die relative Grösse eines Gegenstands geben, er verbindet unterschiedliche Massstäblichkeiten und erzeugt durch den spezifischen Einsatz der Farben einen überaus reichen, differenzierten Bildraum und eine Vielzahl von Orten ganz unterschiedlichen Charakters, die zusammen den Eindruck einer immensen Weite und Tiefe erzeugen, in der sich Dramatisches – die Schöpfung, die Sintflut – ereignet. Visuelle Einstiegshilfen fehlen, die den Betrachter vom Bildvordergrund in das Bild führen, und Kandinsky beschleunigt diese Unmittelbarkeit, indem er die Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Bildinnenraum weiter verunklärt und destabilisiert.
Die Ausstellung zeigt den eigentlichen Beginn von Kandinskys Karriere in Deutschland und deren Fortsetzung nach 1914, hauptsächlich in Russland. In beiden Ländern übernahm Kandinsky eine aktive Rolle im kulturellen Leben, insbesondere in München und Moskau, wo er sich die meiste Zeit aufhielt. Um die Jahrhundertwende war München eines der Zentren für die Entstehung und Verbreitung des Jugendstils. Dank der Sezessionsausstellungen und eines funktionierenden Galeriennetzwerks zählte die Stadt gleichzeitig zur Avantgarde bei der Verbreitung und Durchsetzung moderner Kunst aus anderen Teilen Europas. Als Kandinsky bei Kriegsausbruch 1914 gezwungen war, Deutschland zu verlassen, kehrte er nach Russland zurück, das vom revolutionären Fieber ergriffen war. Hatte sein Engagement in Deutschland dem Organisieren von Ausstellungsmöglichkeiten für sich und seine Freunde gegolten, um seine eigenen und die Ideen seiner Mitstreiter in die Öffentlichkeit zu tragen, so erweiterten sich seine Aufgaben schlagartig, als er in Moskau den Auftrag erhielt, die Leitung kultureller Institutionen zu übernehmen. Zu seinen Aktivitäten gehörten die Gründung und der Aufbau der ersten Museen für zeitgenössische Kunst, die er mit bedeutenden Werken der revolutionären russischen Kunst, eigenen und solchen anderer Künstler, ausstattete. Diese Vorgänge spiegeln die radikalen Veränderungen, die durch die Oktoberrevolution 1917 ausgelöst worden waren. Aber Kandinsky geriet bald in Konflikt mit der zunehmenden Ideologisierung.
Die künstlerischen Ideen der Avantgarde waren nach Kräften gefördert worden, bevor sie nach der Revolution von 1917 von einer kulturpolitischen Elite vereinnahmt wurden, welche die Durchsetzung einer neuen Weltordnung anstrebte. Kandinskys unabhängige künstlerische Position, sowie sein Glaube daran, dass neben Logik und Vernunft die Intuition und Subjektivität wesentliche kreative Kräfte seien, machten es ihm unmöglich, sich den rationalistischen Regeln der Konstruktivisten unterzuordnen. Dennoch hat die Auseinandersetzung mit ihnen auch seine Kunst nicht unberührt gelassen. Neben der Kindheit und Jugend in Russland gehört jene ereignisreiche, aktive Zeit in Russland während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar nach Kriegsende zu den prägendsten Abschnitten seines Lebens.
Als Kandinsky Russland Ende 1921 für immer verliess, stand er an einem Wendepunkt. Die einfachen geometrischen Formen, wie sie die Konstruktivisten Kasimir Malewitsch und El Lissitzky verwendeten, wurden zu einem charakteristischen Bestandteil der wenigen Bilder, die Kandinsky 1921 malte. Sie bilden die Grundlage für sein späteres Werk, auch wenn sie hier eine andere Bedeutung erhielten. Kandinsky stabilisierte die hoch dynamische, seelisch aufgeladene Bildform, die er vor 1914 entwickelte, nach 1921 in der Klarheit geometrisch organisierter Elemente und
beruhigte die kosmischen Wirbel und Sphären seiner Arbeiten von 1912 bis 1919.
* Hartwig Fischer ist Direktor des Museum Folkwang, Essen; Sean Rainbird ist designierter Direktor der Staatsgalerie Stuttgart