Museum Tinguely
04.12.2024 – 11.05.2025
Das Zusammentreffen von Kunst und Schaufenstern
mag zunächst ungewöhnlich erscheinen. Wirft man jedoch einen Blick in dessen Geschichte, wird man sich einer langen Tradition bewusst. Als sich das Schaufenster im ausgehenden
19. Jahrhundert zu einem zentralen Instrument moderner Konsumkultur entwickelte, kamen schnell auch Überlegungen zu
ästhetischen Möglichkeiten der Warenpräsentation auf. Kreative Inszenierungen machten Schaufenster zu Aushängeschildern der Geschäfte, die rund um die Uhr zum Verweilen anregten und
Passant:innen über Angebote informierten; natürlich stets mit der
Absicht, zum Kauf zu animieren.
Bald setzten sich auch Künstler:innen mit diesem neuen Phänomen auseinander. Nachdem Marcel Duchamp mit seinem Werk Fresh Widow schon 1920 die Funktion und Bedeutungsebenen des Fensters ad absurdum geführt hatte, dekorierte er 1945 anlässlich einer Buchveröffentlichung von André Breton erstmals ein Schaufenster in New York. Zu dieser Zeit war Jean Tinguely bereits als professioneller Schaufensterdekorateur in Basel aktiv. Er hatte seine Lehre 1941 am Warenhaus Globus begonnen und schloss die Ausbildung 1944 beim unabhängigen Dekorateur Joos Hutter ab, der ihn zum Besuch der Kunstgewerbeschule Basel anregte. In seinen häufig aus Draht geschaffenen Dekorationen, die Tinguely unter anderem für den Optiker Ramstein Iberg Co. oder den Buchladen Tanner herstellte, deutete sich bereits seine spätere künstlerische Handschrift an.
Auch im New York der 1950er-Jahre verschafften sich Künstler:innen durch regelmässige Aufträge in diesem Bereich ihr Zubrot. Eine wichtige Rolle spielte dabei Gene Moore, der als Art Director des grossen Warenhauses Bonwit Teller und des Juweliergeschäfts Tiffany & Co. das Talent junger, noch unbekannter Kunstschaffender förderte. Er wählte immer wieder Werke von Sari Dienes für seine Schaufensterauslagen aus oder beauftragte Robert Rauschenberg, Jasper Johns oder Andy Warhol mit der Herstellung aufwendiger Dekorationen, bevor sie in der Kunstwelt Fuss fassten. Einige dieser Schaufenster werden in der Ausstellung durch Fotografien dokumentiert oder originalgetreu rekonstruiert und können so nach rund 70 Jahren erstmals wieder entdeckt werden.
Umgekehrt wurde das Schaufenster als Motiv auch in zahlreichen Gemälden, Installationen, Skulpturen, Videoarbeiten und Fotoserien aufgegriffen. In diesen Werken zeichnen sich die dem Schaufenster inhärenten Qualitäten und Assoziationsräume ab. Richard Estes, Peter Blake oder Ion Grigorescu thematisierten in den 1960er- und 1970er-Jahren die bunte, üppige Welt des Kapitalismus. Die verführerische Funktion der Schaufenster wird in Martina Morgers Performance Lèche Vitrines (2020) deutlich, die den französischen Begriff (zu deutsch: Schaufensterbummel) wörtlich übersetzte und Schaufenster in Paris ableckte. Mit den verhängten Fenstern in seinen
Store Fronts (1964-68) spielte Christo mit dem Aspekt des Voyeurismus und der skulpturalen Eigenschaft des Schaufensters. Die szenografische Meisterschaft des traditionellen Dekorationhandwerks wird beispielsweise in den Street Vitrines (2020) von Atelier E.B alias Lucy McKenzie und Beca Lipscombe aufgegriffen.
Auch die Rolle des Schaufensters als gesellschaftlicher Spiegel, welcher das Stadtbild zugleich entscheidend mitprägt, ist ein Gesichtspunkt, der von Kunstschaffenden thematisiert wird. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentierten Eugène Atget in Paris und Berenice Abbott in New York die Fronten verschiedener Läden. Dass anhand von Schaufensterdekorationen auch ein politischer Wandel nachvollzogen werden kann, zeigen Iren Stehlis Fotografien, die sie ab den 1970er- bis in die 1990er-Jahre in Prag aufnahm. Mit der Fotoserie Greenpoint: New Fronts (2015 bis heute) bildet Martha Rosler die Gentrifizierung ihres New Yorker Heimatquartiers ab. In ihrem Greenpoint Project (2011) porträtierte sie ausserdem die Menschen hinter den Scheiben. Damit zeigt sie die Bedeutung, die Geschäfte in einem sozialen Gefüge einnehmen können. In vielen Städten stehen heutzutage aber immer mehr Geschäfte leer. Die Blütezeit der Schaufenster scheint längst vergangen zu sein. Auf diese Entwicklung verweisen Künstler:innen wie Sayre Gomez oder Gregory Crewdson.
Als gut sichtbare Auslage wurden Schaufenster ausserdem für Performancekünstler:innen interessant. Mit dem Ziel, ein möglichst grosses und breit aufgestelltes Publikum anzusprechen, wurden auf dieser Bühne immer wieder gesellschaftliche Fragestellungen verhandelt. Im Oktober 1969 setzte sich Tinguelys Rotozaza III im Schaufenster des Berner Warenhauses Loeb in Gang. Vor einer Traube Schaulustiger zerstörte die Maschine Geschirr und kritisierte damit auf spielerische Weise den übermässigen Konsum in der westlichen Welt. Vlasta Delimar oder María Teresa Hincapié nutzten das Schaufenster, um auf tradierte Rollenbilder der Frau aufmerksam zu machen. Marina Abramović tauschte 1975 in ihrer Performance
Role Exchange den Arbeitsplatz mit einer Prostituierten und sass im Fenster eines Bordells. Damit hinterfragte sie nicht nur den Wert, der unterschiedlichen Tätigkeiten zugeschrieben wird, sondern auch moralische Konnotationen des Schaufensters.
Lynn Hershman Leeson nutzte die Fenster des Kaufhauses Bonwit Teller 1976, um in einer multimedialen Installation die Stadt New York zu porträtieren. Die Szenen, durch die sich ein narrativer Faden zog, präsentierten keinerlei käufliche Objekte, sondern regten vielmehr zum Nachdenken an. Sherrie Rabinowitz und Kit Galloway ermöglichten es 1980 mithilfe innovativster Technik, dass Passant:innen vor einem Schaufenster in New York durch eine Form der Video-
telefonie in Austausch mit Spaziergänger:innen in Los Angeles
treten konnten. Ihre Arbeit Hole in Space macht damit wunderbar deutlich, welche Rolle das Schaufenster einnehmen kann: ein Ort der Interaktion, Diskussion und des Zusammentreffens.
Mit künstlerischen Interventionen in Schaufenstern wird die Ausstellung in den Basler Stadtraum erweitert. Dafür kooperiert das Museum Tinguely mit Studierenden des Instituts Art Gender Nature der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW, welche die Auslagen unterschiedlicher Geschäfte von Januar bis März 2025 installativ oder performativ bespielen werden. ◀
Kuratiert von Adrian Dannatt, freischaffender Kurator und Kunstkritiker, Tabea Panizzi, Kuratorin am Museum Tinguely, und
Andres Pardey, Vizedirektor am Museum Tinguely.
Assistenz: Melanie Keller