Henri Matisse – Figur Farbe Raum
19.03. – 09.07.2006 | Fondation Beyeler
«Nu rose»: Bildbetrachtung zu einem Hauptwerk in der Matisse-Ausstellung
Von Ulf Küster
Obwohl die Bilder von Henri Matisse längst zu Ikonen der Moderne geworden sind, blieben viele Details seiner Lebensgeschichte bis vor kurzem völlig unbekannt. Mit dem Erscheinen der zweibändigen Matisse-Biografie von Hilary Spurling (2005) hat sich dies geändert. Jetzt ist es möglich, die höchst unterschiedlichen Phasen in Matisse’ künstlerischer Produktion mit den Höhepunkten und Krisen seines Lebens in Verbindung zu bringen. Vielleicht war Matisse ein Künstler, der mehr als andere bestimmte menschliche Konstellationen für seine Inspiration benötigte, wobei er wohl eigentlich gar kein geselliger Mensch im landläufigen Sinne gewesen ist. Essentiell für ihn war Zeit seines Lebens die Präsenz von weiblichen Modellen, ohne die er praktisch nicht malen konnte. Die verschiedenen Phasen seines Werkes waren von der körperlichen Präsenz von Frauen abhängig. Die Jahre zwischen 1935 und 1939 könnten in diesem Sinne als Lydia-Phase bezeichnet werden, weil in dieser Zeit Lydia Delectorskaya Matisse’ bevorzugtes Modell gewesen ist, eine junge Frau, die später Assistentin, Haushälterin, enge Vertraute und möglicherweise auch seine Geliebte war. Lydia war als Kind mit ihren Eltern aus Russland nach Frankreich emigriert. Sie hatte seit 1932 Kontakt zur Familie Matisse und war als Gesellschafterin für die schwerkranke Frau von Matisse engagiert worden. Lydia war gross, blond und blauäugig und deswegen eigentlich gar nicht Matisse’ «Typ», dessen Modelle bis dahin eher mediterran brünett gewesen waren. Aber vielleicht war diese Andersartigkeit die entscheidende Inspiration für Matisse, der sich nach der Fertigstellung der Wanddekoration «La Danse» für das Haus des exzentrischen Dr. Barnes bei Philadelphia in einer tiefen künstlerischen Krise befand. Lydia brachte ihn wieder zum Malen. Das Ergebnis ihrer ersten grösseren Zusammenarbeit ist der als «Nu rose» bezeichnete liegende Akt von 1935, der sich als Teil der Cone Collection im Baltimore Museum of Art befindet und für die Matisse-Ausstellung an die Fondation Beyeler ausgeliehen wurde. Das Gemälde ist eine faszinierende Studie über die Balance von Figur, Farbe und Raum in einem Bild. In 22 verschiedenen Zuständen, die von ihm fotografisch dokumentiert worden sind, hat sich Matisse dem endgültigen Ergebnis angenähert, so lange, bis er das Gefühl hatte, dass alle Bildelemente sich in einem spannungsvollen Gleichgewicht befinden. Alles steht in ausgeklügelter Beziehung zueinander. Da ist zum einen der Frauenkörper, der so gross ist, dass man meint, er würde den Bildraum fast sprengen. Seine Monumentalität und dadurch auch erotische Präsenz, seine geschwungenen organischen Linien werden durch die geometrische Regelmässigkeit des Hintergrundes aufgefangen, vor dem der Akt fast zu schweben scheint. Denn das Bild wirkt einerseits flach und beinahe so, als seien die verschiedenen Ebenen hintereinander gestaffelt; andererseits strahlt gerade der Körper etwas ruhend Voluminöses, Dreidimensionales aus, was mit den unterschiedlichen Rosatönen, mit denen er gemalt ist, und seinen schwarzen Konturen zusammenhängt. Zum anderen ist die Beziehung der Farben untereinander für die Bildbalance sehr wichtig: Im Wesentlichen ist der «Grundakkord» des Gemäldes eine Kombination aus einem grossen, durch regelmässige weisse Linien gegliederten Anteil Blau und zwei kleineren Teilen Rot und Gelb, also eine in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehenden Verbindung der drei Grundfarben. Mit diesen kontrastiert das Rosa der Frau, wenn man so will, die Mischung der Grundfarbe Rot mit dem in diesem Bild «geometrischen» Weiss.
Und dann ist da noch oben, fast in der Mitte des Gemäldes, das gelbe Farbgebilde mit den rotbraunen und rosa Ornamenten. Vergleicht man die Fotografien der früheren Zustände des Bildes, sollte das ursprünglich ein Blumenstrauss sein: e in Mittelding zwischen flachem Fleck und räumlichem Objekt. Wenn man dies aus dem Bild entfernt, würde die gesamte Komposition nicht mehr stimmen. «Nu rose» ist in Matisse’ künstlerischer Entwicklung eine Art Meilenstein, auf seinem Weg zu immer radikalerer Vereinfachung von Figur und Form bis hin zu den zeichenartigen «Papiers découpés» seiner letzten Jahre.